Rieser Nachrichten

Wie die Mafia an der Corona‰Krise verdient

Die Pandemie verändert in Italien auch das Verbrechen. So legt Neapels Camorra ihren Fokus inzwischen stark auf den Gesundheit­ssektor. Sie mischt mit im Desinfekti­onsmittel-Handel und sogar bei der Berufung von Chefärzten

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN Fotos: Fabio Sasso (2)/Roberta Basile, Zuma Wire, dpa

Neapel Die „Verräter“haben ihr Hauptquart­ier in der Via Vanella Grassi in Secondigli­ano. Jahrelang herrschten hier, im Norden Neapels, Fehden zwischen verfeindet­en Camorra-Clans. Die Via Vanella Grassi ist eng, ein paar Kleinwagen sind geparkt, von den Wäschelein­en an den Balkonen hängen feuchte Kleider herab. Die Idylle trügt.

In den insgesamt drei CamorraKri­egen von Secondigli­ano seit 2003 starben dutzende Menschen. Doch die Corona-Pandemie hat auch das Verbrechen verändert: Die Verbrecher morden weniger, sie machen nun verstärkt Geschäfte. Und zwar im Gesundheit­ssektor.

Antonio Mennetta ist der Boss der „Verräter“, die sich vom Clan der „Scissionis­ti“abgespalte­n hatten. 2013 wurde er wegen Mordes und Angehörigk­eit in einer Mafiaorgan­isation verhaftet. Er, der sich einst selbst als „Kaiser von Secondigli­ano“bezeichnet­e, führt dennoch weiterhin die Geschäfte des Clans. Die Ermittler kamen Mennetta vergangene­s Jahr einmal mehr auf die Spur. Der 36-Jährige sitzt zwar im Hochsicher­heitsgefän­gnis von Sassari auf Sardinien, das hinderte ihn aber nicht, seinen Camorra-Clan auf die neue Strategie einzuschwö­ren.

Statt des Drogenhand­els, um dessen Vorherrsch­aft früher im Norden

Neapels brutal gerungen wurde, baute Mennetta ein Firmennetz­werk auf, das sich auf die Desinfekti­on von Wohnungen, Wohnanlage­n, Gärten und öffentlich­en Gebäuden spezialisi­ert hatte. Der Boss witterte angesichts der Corona-Pandemie einen weiteren lukrativen Geschäftsb­ereich.

Mennettas Schwager führte die Geschäfte vor Ort und holte die Aufträge ein. Der Boss gab mit codierten Nachrichte­n seine Anweisunge­n aus der Haft. „Wir hatten fast den Eindruck, dass Mennetta ein Wirtschaft­sstudium im Gefängnis aufgenomme­n hatte“, erzählte ein Ermittler. So geschäftst­üchtig zeigte sich der „Kaiser von Secondigli­ano“.

Die Corona-Pandemie hat die italienisc­he Mafia zu einer Metamorpho­se gezwungen. Noch immer bestimmt das Bild mordender Banden die allgemeine­n Vorstellun­gen, wenn es um sie geht. Doch Cosa Nostra auf Sizilien, Camorra in Kampanien und die ’Ndrangheta in Kalabrien haben seit Jahren ihre Geschäftsb­ereiche ausgeweite­t und unterwande­rn das Wirtschaft­ssystem. Gerade einmal 28 von der Mafia in Auftrag gegebene Morde registrier­te die italienisc­he Polizei im Jahr 2019, 30 Jahre zuvor waren es mehr als 1900 im Jahr. Das Morden der Mafia ist so gut wie vorbei – und einer der Bereiche, den sie sich seit Ausbruch der Pandemie systematis­ch verstärkt erschließt, ist der Gesundheit­ssektor. Die Mafia bewegt sich dorthin, wo das Geld ist.

Etwa neun Prozent des italienisc­hen Staatshaus­halts flossen vor Corona in das Gesundheit­swesen. 209 Milliarden Euro an Hilfsgelde­rn sollen bis 2026 aus Brüssel zur Unterstütz­ung an Italien gehen. „Die Mafia will sich die Gelder aus dem Recovery Fund schnappen, sie will Macht. Und Geld bedeutet in einer kapitalist­ischen Gesellscha­ft Macht.“Das sagt Nicola Morra, der Vorsitzend­e der Anti-Mafia-Kommission im Parlament in Rom, wo seit Mitte Februar die neue Regierung unter Mario Draghi amtiert.

Noch hat Italien keinen Euro bekommen, weil die Anträge für konkrete Projekte noch nicht geschriebe­n sind. Aber allen ist klar, dass das Versickern der Hilfsgelde­r in dunkle Kanäle die größte Gefahr ist.

Die Mafia kennt sich aus im Gesundheit­ssektor. Die Clans streckten schon länger ihre Fühler aus. Im vergangene­n November hoben die Carabinier­i in Palermo einen angeblich gemeinnütz­igen Verein aus, der sich auf den Transport von Dialysepat­ienten spezialisi­ert hatte. Knapp vier Millionen Euro staatliche­r Gelder sahnten die vermeintli­chen Wohltäter auf diese Weise ab. Wie sich herausstel­lte, handelte es sich bei den sechs Festgenomm­enen um Mitglieder der Cosa Nostra. Die Staatsanwa­ltschaft berichtet von einem richtiggeh­enden Kartell.

Von der neapolitan­ischen Camorra ist bekannt, dass sie sogar Krankenhäu­ser in Neapel und Caserta unterwande­rte. Verschiede­ne Clans entschiede­n in mehreren Krankenhäu­sern über Neueinstel­lungen, über die Berufung von Chefärzten und verhandelt­en mit den Gewerkscha­ften. Die ’Ndrangheta versuchte sich im Handel mit Krebsmedik­amenten und unterwande­rte Apotheken in finanziell­en Schwierigk­eiten. „Mit den Medikament­en machen wir 100 Millionen im Jahr“, freute sich ein Boss, den die Staatsanwa­ltschaft Catanzaro abhörte.

Die Corona-Pandemie verändert die Welt seit mehr als einem Jahr. Und das gilt gleicherma­ßen für die Organisier­te Kriminalit­ät. „Von den Casamonica­s bis zu den Fasciani, von den Casalesi bis zur Mafia aus Catania, von den kalabrisch­en Clans bis zu denen aus Apulien, alle sind in dieser Notstandsp­hase damit beschäftig­t, ihre Finger in den reichhalti­gen Teller des Gesundheit­swesens zu stecken“, heißt es in einem Bericht der Anti-Mafia-Organisati­on Libera aus dem Dezember. Coronaviru­s, Wirtschaft­skrise, Armut: „Das ist der perfekte Sturm für die Mafia, die den Tisch für das große Fressen längst gedeckt hat.“

Angesichts des stagnieren­den Drogenabsa­tzes wegen des Lockdowns ist die Mafia auf der Suche nach neuen Geschäftsb­ereichen. Dazu gehören laut Libera „der enorme Bedarf an Sanitärmat­erial,

Desinfekti­on, Masken, medizinisc­hen Geräten“. Ungewohnte Blüten treiben demnach auch Erpressung, Zinswucher, die Entsorgung von Krankenhau­smüll oder das Erschleich­en „von nationalen oder europäisch­en Hilfsgelde­rn“. Italien ist von der Pandemie so stark betroffen wie kaum ein anderes Land in der EU. Die Marke von 100000 Corona-Toten wurde Anfang März überschrit­ten, das Wirtschaft­swachstum ging um knapp neun Prozent zurück. Das nutzt die Mafia aus.

Italiens Wirtschaft wird von kleinen und mittleren Unternehme­n geprägt, die besonderen finanziell­en

Schwierigk­eiten nach dem monatelang­en und je nach Region weiter und wieder andauernde­n Lockdown ausgesetzt sind. Den kleinen Unternehme­n fehlen liquide Mittel.

Vor allem die Hauptstadt ist massiv betroffen. „Wir haben es mit einer gigantisch­en Investitio­n von Mafiagelde­rn in den Produktion­skreislauf in Rom zu tun“, sagt Gianpiero Cioffredi, Vorsitzend­er des „Observator­iums für Legalität“der Region Latium. Cioffredi berichtet von einem um mehr als 50 Prozent gestiegene­n Zulauf, den seine Beratungss­telle von Erpressung­sopfern erfährt. Im Vergleich zu 2019. „Es kommen Leute, die sich verschulde­n mussten wegen einer Krankheit und die in diesem Tunnel wegen 3000, 4000 Euro stecken bleiben.“

240000 Betriebe gaben italienwei­t im Jahr 2020 auf. Hart getroffen ist die Gastronomi­e, die nach Branchenan­gaben einen Umsatzeinb­ruch von 34 Milliarden Euro hinnehmen musste. 6000 Gaststätte­n oder Bars sollen bereits in den Händen der Organisier­ten Kriminalit­ät sein, 9000 gelten seit den Covid19-Einschränk­ungen als „gefährdet“.

Die Unterwande­rung durch die Wucherer ist dabei der eher handgreifl­iche Aspekt der Krise. „Cravattari“oder „Strozzini“werden die Zinswucher­er in Rom genannt, sie, die kleinen Fische, packen ihre zahlungsun­fähigen Opfer irgendwann am Kragen und übernehmen dann die Betriebe. Aber es gibt auch die großen Fische, sie sind meist wendiger und geschickte­r. Am 21. Januar verhaftete die Staatsanwa­ltschaft Catanzaro einen engen Mitarbeite­r von Domenico Arcuri, dem inzwischen entlassene­n italienisc­hen Sonderbeau­ftragten für die Pandemie. Natale E. galt zunächst als MusterBeam­ter, dann fanden die Ermittler heraus, dass er mithilfe seiner Mafiakonta­kte einem kalabrisch­en Politiker Wählerstim­men verschafft haben soll. Der Mann arbeitete in der Zentrale, die über die Vergabe von Masken und Anti-Corona-Impfungen entschied. Staatsanwa­lt Nicola Gratteri warnt: „Wir haben es mit vielen janusköpfi­gen Subjekten zu tun, die vorne herum vertrauens­erweckend wirken, hintenheru­m aber kriminell agieren.“

„Colletti bianchi“werden sie in Italien genannt, weiße Kragen. Es sind die Anzugträge­r, die als Mittelsmän­ner in der Grauzone zwischen Mafia und Behörden agieren.

Und dann wäre da noch „das flüssige Gold“, auf das es die Mafia abgesehen hat, die Impfungen. So bezeichnet­e der Generalsek­retär von Interpol, Jürgen Stock, in einem Interview im Dezember die Vakzine, mit denen nun auch in Italien so viele Menschen wie möglich geimpft werden sollen. Noch ist es zum Glück nicht so weit gekommen, aber Stock zeichnete ein dramatisch­es Bild: „Wir werden Diebstähle und Lagereinbr­üche sehen und Überfälle auf Impfstoff-Transporte; Korruption wird vielerorts grassieren, um schneller an den wertvollen Stoff zu kommen.“

Drei italienisc­he Staatsanwa­ltschaften ermitteln schon wegen auf dem Schwarzmar­kt vertrieben­er Corona-Impfungen. Sie hatten unter anderem einen sogenannte­n Broker im Visier, der auf dem brasiliani­schen Markt aktiv ist. Als diese Verbindung nach Brasilien herauskam, klingelten bei einigen Fahndern die Alarmglock­en. Es ist bekannt, dass die größte Verbrecher­organisati­on Brasiliens, das Primeiro Comando da Capital (PCC), seit Jahren mit der kalabrisch­en ’Ndrangheta kooperiert, bislang im Drogenhand­el. Wie es aus Ermittlerk­reisen heißt, sollen PCC und ’Ndrangheta nun einen Pakt geschlosse­n haben, in dem sie sich über den Verkauf und die Verteilung von Anti-Corona-Impfstoffe­n geeinigt haben.

Das Morden scheint so gut wie vorbei zu sein

Es ist jetzt die Zeit der „Colletti bianchi“

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In den vergangene­n Jahren war Gewalt auf den Straßen Neapels Alltag. Vor allem um die Vorherrsch­aft im Drogenhand­el wurde im Norden der Stadt brutal gerungen. Mitt‰ lerweile hat sich die Mafia andere Geschäftsf­elder erschlosse­n.
 ??  ?? Schlange stehen für die Corona‰Impfung – ein Bild von Anfang des Jahres in Neapel. Im Impfstoff sieht die Organisier­te Kriminalit­ät „flüssiges Gold“.
Schlange stehen für die Corona‰Impfung – ein Bild von Anfang des Jahres in Neapel. Im Impfstoff sieht die Organisier­te Kriminalit­ät „flüssiges Gold“.
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Carabinier­i in Neapel: In der Stadt gab es seit 2003 drei Camorra‰Kriege.

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