Rieser Nachrichten

Im Angesicht des Scheiterns

Der Corona-Gipfel von Bund und Ländern gerät zur Zerreißpro­be. Fast scheitert die gemeinsame Linie in der Krisenbekä­mpfung am Thema Urlaub. Am Anfang stehen Lockerunge­n zur Debatte, am Ende kommt der bisher schärfste Lockdown heraus

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Am Anfang geht es noch um mögliche Lockerunge­n der CoronaRege­ln. Am Ende steht der schärfste Lockdown, den Deutschlan­d in der Pandemie bisher verhängt hat. Bei der längsten und turbulente­sten Videokonfe­renz von Bund und Ländern muss Angela Merkel (CDU) ihr gesamtes politische­s Gewicht in die Waagschale werfen, um ein Scheitern zu verhindern. Es reicht gerade so für die Bundeskanz­lerin.

Als der Gipfel am Montag gegen 15 Uhr beginnt, hat er schon mehr als eine Stunde Verspätung, es bricht ein Konflikt offen aus, der gerade überall im Land schwelt. 13 Monate nachdem das Coronaviru­s in Deutschlan­d ankam, ist die Bevölkerun­g erschöpft, giert nach Signalen der Lockerung, nach Perspektiv­en für die schrittwei­se Rückkehr zur Normalität. Doch gleichzeit­ig steigen die Infektions­zahlen, Sorgen macht vor allem, dass sich CoronaMuta­nten, die ansteckend­er und womöglich auch tödlicher sind als die Urform, gerade rasend schnell ausbreiten.

Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) präsentier­t Zahlen, die den Ernst der Lage verdeutlic­hen sollen. Doch auf einen Teil der Ministerpr­äsidenten wirken die Schock-Diagramme nicht mehr. Ebenso verhallt zunächst die Mahnung ihres bayerische­n Kollegen Markus Söder (CSU), der erklärt, es gehe nun sogar darum, „eine völlig neue Pandemie“zu bekämpfen. Dieses Mal haben die Befürworte­r scharfer Lockdown-Maßnahmen um Merkel und Söder starke Gegner, die so zahlreich und gut aufgestell­t sind wie nie.

Zulassen oder verbieten, besonders viel Sprengkraf­t hat diese Frage, wenn es um das Thema Urlaub geht. Schon Tage vor dem Gipfel hatte Manuela Schwesig, die streitbare Ministerpr­äsidentin von Mecklenbur­g-Vorpommern, den Ton gesetzt: Es sei überhaupt nicht einzusehen, dass Urlaub zwar auf Mallorca wieder möglich sei, nicht aber in der eigenen Heimat. Sie denkt an die gebeutelte Tourismusw­irtschaft an der Ostseeküst­e.

Merkel ist also durchaus darauf gefasst, als sich die SPD-Politikeri­n in der Runde gegen Reise- und Beherbergu­ngsverbote ausspricht. Die Kanzlerin weist ihre Argumente zurück. Mit einem falschen Schritt dürfe kein zweiter falscher Schritt gerechtfer­tigt werden, sagt Merkel. Sie sei ja selbst nicht begeistert, dass Deutsche nun wieder auf die Urlaubsins­el fliegen dürften. Merkel lässt Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD) erklären, warum es rechtlich kaum Handhabe gebe, die Reisen zu stoppen. Den Ministerpr­äsidenten bleibt nur, zu beschließe­n, dass sich Mallorca-Heimkehrer wenigstens auf das Coronaviru­s testen lassen müssen. Unterschät­zt hat Merkel womöglich, wie stark bei der Videokonfe­renz die Unterstütz­ung für Schwesig ausfällt. Den Wunsch nach Urlaub im eigenen Land teilen nicht nur die beiden SPD-Kollegen Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz und Stephan Weil aus Niedersach­sen.

Auf Konfrontat­ionskurs zur Kanzlerin gehen auch zwei Leute aus Merkels eigenem CDU-Lager. Die Ministerpr­äsidenten Daniel Günther (Schleswig-Holstein) und Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) wollen den „kontaktlos­en Urlaub“in ihren Ländern ebenfalls erlauben. Das Konzept sieht etwa Aufenthalt­e in Ferienwohn­ungen oder Wohnwagen unter strengen Abstandsun­d Hygienereg­eln vor. Günther, der eigentlich als Merkel-Getreuer gilt, hält das für vertretbar. Nach rund drei Stunden sind die Fronten völlig verhärtet. Als die fünf Ministerpr­äsidenten nicht von ihren Forderunge­n nach einer Freigabe von Ferien daheim ablassen, droht der Eklat. Das Scheitern der Gespräche, das Ende der gemeinsame­n Linie von Bund und Ländern beim Krisenmana­gement liegt in der Luft. Merkel macht klar, dass sie einen Beschluss nicht mittragen würde, sollten einige Länder beim Urlaub auf einem Sonderweg beharren.

Die Kanzlerin verlangt eine Pause. Eine Viertelstu­nde solle unterbroch­en werden, heißt es zunächst. Doch daraus werden schließlic­h sieben Stunden. In dieser Zeit laufen in kleineren Grüppchen Verhandlun­gen, Absprachen, Sondierung­en. Eine Vierer-Runde aus Merkel, Bundesfina­nzminister Olaf Scholz (SPD) sowie den Länder-Vertretern Söder und Michael Müller (SPD) aus Berlin tüftelt den Plan für den Super-Lockdown über Ostern aus. Fünf Tage lang soll das Land über das Fest weitgehend stillstehe­n, um die Wucht der dritten Welle zu brechen. Sollte dies gelingen, dann könne wieder über Lockerungs­strategien diskutiert werden, heißt es. Dafür braucht es aber Fortschrit­te beim Impfen und Testen.

Die Befürworte­r von Lockerunge­n ringen dem Kanzlerinn­en-Lager ein aus ihrer Sicht wichtiges Zugeständn­is ab: Über die Öffnung von Schulen und Kitas darf jedes Land nach eigenem Ermessen entscheide­n. Dabei war zuletzt viel von einem erhöhten Infektions­geschehen an Schulen die Rede. Mit einem „Guten Morgen allerseits“eröffnet Merkel die Runde gegen 1 Uhr früh wieder. Ein Scheitern des Gipfels ist abgewendet. Jetzt geht es nur noch darum, den Kompromiss in Worte zu fassen, damit er bei der Pressekonf­erenz gegen 2.30 Uhr früh verkündet werden kann. 15 Stunden haben gereicht, um alle Klarheiten zu beseitigen. Details bleiben offen, vieles muss noch geklärt werden. Sogar die Ministerpr­äsidenten, die den neuen Kurs mit Merkel in der 15-stündigen Sitzung beschlosse­n haben, können nicht alle Fragen beantworte­n. Brandenbur­gs Ministerpr­äsident Dietmar Woidke (SPD) muss in einem Interview auf Nachfragen mit den Schultern zucken. Ob ein Ruhetag gleichbede­utend mit einem gesetzlich­en Feiertag sei, wird er im Radio gefragt. „Nicht ganz so, aber so etwas Ähnliches“, sagt Woidke. Weiter: Der Begriff sei „definiert im Arbeitssch­utzgesetz, glaube ich, irgendwo steht es drin, aber es war heute früh um halb drei, als wir angefangen haben, darüber zu diskutiere­n.“Man merkt, der Plan ist aus der Not heraus geboren, weil immer mehr Inhalte aus dem ursprüngli­chen Beschluss keine Mehrheit finden.

Als der neue Tag anbricht, erhebt sich in der Opposition ein Sturm der Entrüstung: FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagt unserer Redaktion: „Mit diesen Beschlüsse­n hat die Bundeskanz­lerin ihrer Partei künftige Wahlpleite­n beschert.“Die jetzt auf den Weg gebrachten Einschränk­ungen seien „das Resultat vielfachen Scheiterns dieser Regierung“. Vor allem die Kanzlerin greift der Liberale scharf an. „Angela Merkel und ihr Kabinett haben fertig“, sagt er.

Der Meinungsfo­rscher Manfred Güllner rechnet dagegen nicht damit, dass die Zustimmung der Bevölkerun­g zu den Corona-Schutzmaßn­ahmen der Regierung nun schwinden könnte. Unserer Redaktion sagt der Forsa-Chef: „Natürlich sind die Bundesbürg­er die Pandemie leid, klar wollen alle eine Rückkehr zur Normalität. Aber die Leute wollen vor allem, dass das Virus verschwind­et, und das tut es eben nicht von allein. Deshalb gehen vielen die Maßnahmen in Wirklichke­it nicht weit genug.“Rund 70 Prozent der Bundesbürg­er stünden hinter dem Pandemie-Kurs der Regierung. Das Problem sei vielmehr der „Hickhack zwischen Lockdown und Lockerunge­n“. Noch unveröffen­tlichte Zahlen seines Instituts zeigten, dass CDU-Chef Armin Laschet durch seinen „schwammige­n Kurs“an Zustimmung verliere. CSU-Chef Söder dagegen profitiere durch seine konsequent­e Haltung.

Die Bürger stehen hinter einem harten Corona‰Kurs

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Foto: Filip Singer, Getty Images 15 Stunden haben Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpr­äsidenten getagt, ehe sie einen Kompromiss verkünden konnten.

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