Münchens erster wegen Mordes verurteilter Raser
Der 14-jährige Max D. hatte keine Chance, als ein Geisterfahrer ihn mit seinem 306-PS-BMW erfasste. Das Opfer flog 40 Meter durch die Luft. Warum das Gericht in seinem Urteil keine Zweifel hat
München Ein Geisterfahrer rast nachts am Steuer eines schwarzen BMW Coupé mit Tempo 120 durch München. Hinter ihm lärmt ein Martinshorn, es blinkt das Blaulicht einer Streife. Vor ihm: die blendenden Frontscheinwerfer ausweichender Autos. Vier junge Menschen steigen weiter vorn nach einer Party aus dem Bus. Es ist 23.21 Uhr, als die Jugendlichen die drei Fahrbahnen der Straße überqueren – und der schwarze Wagen in sie hineinrast. Die 16-jährige Lea S. verletzt sich am Sprunggelenk und muss operiert werden. Doch ihr 14-jähriger Freund, Max D., wird mehr als 40 Meter durch die Luft geschleudert und ist sofort tot. Der Todesfahrer aber steigt nicht aus, sondern flieht weiter. Bis ihn die Polizei im Zuge einer Sofortfahndung in einem Park übermannt. Die Tat macht viele Münchner fassungslos. Sie halten wenige Tage später eine Mahnwache für den Verstorbenen ab. Unzählige Kerzen flackern an der Fürstenrieder Straße, die am 15. November 2019 zum Tatort wurde.
Viele Monate sind seitdem vergangen. Am Dienstagnachmittag ging nun der Prozess zu Ende: Der Angeklagte ist wegen Mordes, vierfachen Mordversuches, gefährlicher Körperverletzung und verbotenen
Kraftfahrzeugrennens mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das entschied das Landgericht München I. Außerdem wurde die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
Die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl spricht von einem tragischen Abend, traumatischen Erlebnissen und „Sekunden oder Zehntelsekunden, die über Leben und Tod entschieden“. Der Angeklagte nahm das Urteil regungslos und mit gesenktem Blick entgegen.
Die Schwurgerichtskammer im Landgericht München hatte darüber zu entscheiden, ob Geisterfahrer Victor B. in dieser Novembernacht fahrlässig oder mit Vorsatz gehandelt hat. Hätte er also damit rechnen müssen, Menschen durch seine mit mehr als 120 Stundenkilometern durch das nächtliche München mindestens schwer zu verletzen oder gar zu töten? In den insgesamt 16 Verhandlungstagen hat das Gericht die verheerende Fahrt des Angeklagten rekonstruiert. Richterin Ehrl hörte Augenzeugen, Geschädigte, Unfallexperten, Gutachter und die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und Verteidigung.
Für Verteidigerin Daniela Gabler blieb bis zum Schluss klar: „Er ist kein Mörder.“Die Verteidigung hielt die Anklage wegen Mordes für überzogen. Es handle sich um Fahrlässigkeit und damit komme höchstens eine Gefängnisstrafe von zehn Jahren infrage. Hintergrund: Nach vielen Raserunfällen hatte der Gesetzgeber den Paragrafen 315d im Strafgesetzbuch installiert, der bei tödlichen Unfällen eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vorsieht. Gabler kritisierte das Vorgehen des Gerichtes: „Nicht jedes Fehlverhalten im Straßenverkehr,
dem ein Mensch zu Tode kommt, ist ein Mord.“Victor B., 36 Jahre alt und aus Bad Tölz stammend, beteuerte zu Beginn des Prozesses, nicht mit einem Unfall gerechnet zu haben. Er habe sich aufgrund seines Alkohol- und Kokainkonsums überschätzt. Es tue ihm unendlich leid, sagte Verteidigerin Gabler. Ihr Mandant realisiere erst allmählich, was in dieser Nacht passiert sei. Er werde wegen Suizidgedanken mit Antidepressiva behandelt. Er denke jede Sekunde an die Tatnacht.
Victor B. war wegen eines Drogenvergehens bereits zu eineinhalb Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden, er hatte nach eigenen Angaben zwei Gramm Kokain konsumiert und zwei Flaschen Bier getrunken. Auf dem Rücksitz seines Wagens lagen, in Zeitungspapier eingeschlagen, weitere zwei Gramm Marihuana – und ein Streifenwagen war ihm aufgrund eines unerlaubten Abbiegemanövers auf den Fersen. In seinem überhöhGeisterfahrt ten Rauschzustand habe ihr Mandant geglaubt, der Polizei davonkommen zu können – und das, ohne jemanden zu verletzen. Gabler sagte vor Gericht: „Wir gehen davon aus, dass das Ergebnis bereits feststeht.“Und kritisierte damit den Ablauf des Prozesses: Er sei unfair abgelaufen. Zeugenaussagen seien zu subjektiv gewesen, um sich als Grundlage für ein Urteil zu eignen. Das Suchtverhalten ihres Mandanten sei nicht genügend berücksichtigt worden. „Es handelt sich hier um eine Mordanklage, die vor vier oder fünf Jahren wohl nicht erhoben worden wäre“, sagte seine Anwältin zum Prozessauftakt. „Wie kommt man dazu, davon auszugehen, dass unser Mandant vorsätzlich Personen ermorden wollte?“
Vier Mordmerkmale hatte Staatsanwältin Nina Prantl dagegen herausgearbeitet: Der Angeklagte habe seinen Drogenkonsum verschleiern wollen. Dafür habe er seinen 306 PS starken Wagen als gefährliches Mittel benutzt. Sein Verbei halten sei zudem heimtückisch gewesen, da er sich auf der falschen Fahrbahn befand. Viele Menschen hat er dadurch gefährdet und einen Jugendlichen getötet. Er habe außerdem aufgrund niedriger Beweggründe gehandelt: Seine Bewährung stand bei einer Polizeikontrolle auf dem Spiel. Prantl wurde noch deutlicher: Der Angeklagte habe seine eigenen Interessen „in krasser Eigensucht“über das Lebensrecht anderer gestellt. Nicht Absicht, sondern bedingter Vorsatz lasse sich damit in seinem damaligen Verhalten erkennen. Deshalb sei die Anklage wegen Mordes und wegen versuchten Mordes in vier Fällen berechtigt.
Die Eltern des Verstorbenen Max D. wurden als Nebenkläger durch Rechtsanwalt Jürgen Ringler vor Gericht vertreten. Die Nebenklage hatte den Forderungen der Staatsanwaltschaft nichts hinzuzufügen. Victor B. ist damit der erste wegen Mordes verurteilte Raser Münchens.
Seine Verteidigerin sagt: „Er ist kein Mörder.“