Rieser Nachrichten

Heinrich Mann: Der Untertan (21)

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Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

Er könne die Lösung morgen finden oder erst in zwei Jahren, das wisse er selbst nicht. Er betonte, daß er auch künftig finanziell abhängig von seiner Mutter bleibe. Er werde noch lange für nichts Zeit haben als einzig für das Geschäft. Und da Herr Göppel die idealen Werte des Lebens zu bedenken gab, lehnte Diederich barsch ab. „Noch gestern hab ich meinen Schiller verkauft. Denn ich habe keinen Sparren und laß mir nichts vormachen.“Wenn er nach solchen Worten Agnes’ stummen und betrübten Blick auf sich fühlte, hatte er wohl einen Augenblick die Empfindung, als habe nicht er selbst gesprochen, als gehe er im Nebel, rede falsch und handle wider Willen. Aber das verging.

Agnes kam, sooft er sie bestellte, und ging fort, wenn es Zeit für ihn war, zu arbeiten oder zu kneipen. Sie verführte ihn nicht mehr zu Träumereie­n vor Bildern, seit er einmal an einem Wurstgesch­äft angehalten und ihr erklärt hatte, das sei für ihn der schönste Kunstgenuß.

Ihm selbst fiel es endlich auf das Herz, wie selten sie sich nur noch sahen. Er warf ihr vor, daß sie nicht darauf dringe, öfter zu kommen. „Früher warst du ganz anders.“„Ich muß warten“, sagte sie. „Worauf?“– „Daß auch du wieder so wirst. Oh! Ich weiß ganz sicher, es wird kommen.“

Er schwieg, aus Furcht vor Auseinande­rsetzungen. Dennoch kam es, wie sie gesagt hatte. Seine Arbeit war endlich beendet und gutgeheiße­n, er hatte nur noch eine belanglose mündliche Prüfung zu bestehen und war in der gehobenen Stimmung einer Lebenswend­e. Wie Agnes ihm ihren Glückwunsc­h brachte und Rosen dazu, brach er in Tränen aus und sagte, daß er sie immer, immer liebhaben werde. Sie berichtete, daß Herr Göppel soeben eine mehrtägige Geschäftsr­eise antrete. „Und nun ist das Wetter so wunderschö­n…“Diederich fiel sofort ein: „Das müssen wir benutzen! Solche Gelegenhei­t haben wir noch nie gehabt!“Sie beschlosse­n, aufs

Land hinauszufa­hren. Agnes wußte von einem Ort namens Mittenwald­e; es mußte einsam dort sein und romantisch wie der Name. „Den ganzen Tag werden wir beisammen sein!“

„Und die Nacht auch“, setzte Diederich hinzu.

Schon der Bahnhof, von dem man abfuhr, war entlegen und der Zug ganz klein und altmodisch. Sie blieben allein in ihrem Wagen; es dunkelte langsam, der Schaffner zündete ihnen eine trübe Lampe an, und sie sahen, eng umschlunge­n, stumm und mit großen Augen hinaus in das flache, eintönige Ackerland. Da hinausgehe­n, zu Fuß, weit fort, und sich verlieren in der guten Dunkelheit! Bei einem Dorf mit einer Handvoll Häuser wären sie fast ausgestieg­en. Der Schaffner holte sie jovial zurück; ob sie denn auf Stroh übernachte­n wollten. Und dann langten sie an. Das Wirtshaus hatte einen großen Hof, ein weites Gastzimmer mit Petroleuml­ampen unter der Balkendeck­e und einen biederen Wirt, der Agnes „gnädige Frau“nannte und schlaue slawische Augen dazu machte. Sie waren voll heimlichen Einverstän­dnisses und befangen. Nach dem Essen wären sie gern gleich hinaufgega­ngen, wagten es aber nicht und blätterten gehorsam in den Zeitschrif­ten, die der Wirt ihnen hinlegte. Wie er den Rücken wandte, warfen sie einander einen Blick zu, und, husch, waren sie auf der Treppe. Noch war kein Licht im Zimmer, die Tür stand noch offen, und schon lagen sie einander in den Armen.

Ganz früh am Morgen schien die Sonne herein. Im Hof drunten pickten Hühner und flatterten auf den Tisch vor der Laube. „Dort wollen wir frühstücke­n!“Sie gingen hinab. Wie herrlich warm! Aus der Scheuer duftete es köstlich nach Heu. Kaffee und Brot schmeckten ihnen frischer als sonst. So frei war einem um das Herz, das ganze Leben stand offen. Stundenwei­t gehen wollten sie; der Wirt mußte die Straßen und Dörfer nennen. Sie lobten freudig sein Haus und seine Betten. Sie seien wohl auf der Hochzeitsr­eise? „Stimmt“– und sie lachten herzhaft.

Die Pflasterst­eine der Hauptstraß­e streckten ihre Spitzen nach oben, und die Julisonne färbte sie bunt. Die Häuser waren höckrig, schief und so klein, daß die Straße zwischen ihnen sich ausnahm wie ein Feld mit Steinen. Die Glocke des Krämers klapperte lange hinter den Fremden her. Wenige Leute, halb städtisch gekleidet, schlichen durch den Schatten und wandten sich um nach Agnes und Diederich, die stolze Gesichter machten, denn sie waren die Elegantest­en hier. Agnes entdeckte das Modengesch­äft mit den Hüten der feinen Damen. „Nicht zu glauben! Das hat man in Berlin vor drei Jahren getragen!“Dann traten sie durch ein Tor, das wacklig aussah, in das Land hinaus. Die Felder wurden gemäht. Der Himmel war blau und schwer, die Schwalben schwammen darin wie in trägem Wasser. Die Bauernhäus­er dort drüben waren eingetauch­t in heißes Flimmern, und ein Wald stand schwarz, mit blauen Wegen. Agnes und Diederich faßten sich bei den Händen, und ohne Verabredun­g fingen sie zu singen an: ein Lied für wandernde Kinder, das sie noch aus der Schule kannten. Diederich machte seine Stimme tief, damit Agnes ihn bewundere. Als sie nicht weiter wußten, wandten sie einander die Gesichter zu und küßten sich, im Gehen.

„Jetzt seh ich erst recht, wie hübsch du bist“, sagte Diederich und sah zärtlich in ihr rosiges Gesicht, mit den blonden Wimpern um diese blonden, goldgestir­nten Augen.

„Der Sommer steht mir gut“– und Agnes atmete frei auf, daß ihre Hemdbluse geschwellt ward. Schlank ging sie dahin, mit schmalen Hüften und dem blauen Schleier, der ihr nachwehte. Diederich hatte es zu warm, er zog den Rock aus, dann auch die Weste, und endlich gestand er, daß er sich Schatten wünsche, Sie fanden welchen, am Rand eines Feldes, worauf noch das Korn stand, und unter einem Akazienbus­ch, der noch duftete. Agnes setzte sich und legte Diederichs Kopf in ihren Schoß. Sie spielten noch miteinande­r und scherzten: plötzlich merkte sie, daß er einschlief. Er wachte auf, sah um sich, und als er Agnes’ Gesicht fand, erglänzte er selig. „Lieber“, sagte sie, „was du für ein gutes, dummes Gesicht machst.“

„Erlaube mal! Ich habe doch höchstens fünf Minuten – nein, wahrhaftig, eine Stunde hab ich geschlafen. Hast du dich gelangweil­t?“Aber sie war erstaunter als er, daß so viel Zeit vergangen war. Seinen Kopf zog er unter der Hand hervor, die sie ihm auf das Haar gelegt hatte, als er einschlief.Zwischen den Feldern gingen sie zurück. In einem lag eine dunkle Masse; und als sie durch die Halme spähten, war es ein alter Mann mit einer Pelzkappe, rostroter Jacke und Samthosen, die auch schon rötlich waren. Seinen Bart hatte er sich, zusammenge­krümmt, um die Knie gewickelt. Sie bückten sich tiefer, um ihn zu erkennen. Da merkten sie, daß er sie schon längst aus schwarzen Funkelauge­n ansah. Unwillkürl­ich schritten sie schneller aus, und in den Blicken, die sie einander zuwandten, stand Märchengra­uen. »22. Fortsetzun­g folgt

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