Rieser Nachrichten

Lässt Lindner die Koalition platzen?

Die Ampel war für ihn nie eine Liebesheir­at, sondern immer eine Zweckehe. Nun eskaliert der FDP-Chef selbst den Streit. Sogar eine Trennung scheint nicht mehr ganz ausgeschlo­ssen.

- Von Stefan Lange

Christian Lindner wird sich in diesen Tagen die politische­n Ereignisse vor 42 Jahren noch einmal genau anschauen. Es war der 9. September 1982, als Bundeswirt­schaftsmin­ister Otto Graf Lambsdorff das „Konzept für eine Politik zur Überwindun­g der Wachstumss­chwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslos­igkeit“vorlegte. Der FDP-Politiker warb damals offensiv für die Priorisier­ung marktwirts­chaftliche­r Prinzipien, es war der Anfang vom Ende der Regierungs­koalition aus SPD und Liberalen. Lambsdorff­s Vorstoß ging als „Scheidungs­papier“in die Geschichte ein, und die könnte sich gerade wiederhole­n. Auch Lindner überlegt, ob er sich vom Ampelbündn­is trennt.

Die Parallelen zu damals sind unübersehb­ar: Im Haushalt klaffen tiefe Löcher, das Wachstum schwächelt. SPD und FDP stehen beim Wahlvolk schlecht da. Am Koalitions­bruch aktiv beteiligt war der damalige Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher. „Ein Bundeskanz­ler, der die Partei nicht mehr hinter sich hat, kann am Ende auch die Politik nicht mehr durchsetze­n, die er selbst für richtig hält“, urteilte er über den Zustand der von Helmut Schmidt

(SPD) geführten Regierung. Es ist ein Satz, den Lindner so auch über Kanzler Olaf Scholz sagen könnte. Heute hat es die FDP darüber hinaus noch mit den Grünen zu tun. Wenn sich die Liberalen über die SPD schon aufregen, dann treiben die Grünen sie fast in den Wahnsinn. Die unterschie­dliche politische Sozialisat­ion offenbart sich unter anderem am Streit über die Kindergrun­dsicherung. Es geht dabei keineswegs nur ums Geld, sondern um Überzeugun­gen. Ein Blick in die Grundsatzp­rogramme der Parteien ist hilfreich. „Kinder … haben eigene Rechte. Diese gehören in den Mittelpunk­t von Politik und Gesellscha­ft und sind im

Grundgeset­z eigenständ­ig zu garantiere­n“, heißt es bei den Grünen. Die FDP erklärt: „In der Verantwort­ung für ihre Kinder sehen Liberale zunächst die Eltern und erst dann Staat und Gesellscha­ft.“

Es ist nicht das einzige Thema, bei dem die FDP kaum mehr Rücksicht nimmt auf die Partner. In Brüssel wollten die Liberalen das Lieferkett­engesetz blockieren – ein Vorhaben, das von SPD-Minister Hubertus Heil vorangetri­eben wurde. Auch beim Verbrenner­verbot stellte sich die FDP quer – zum Ärger der Grünen. In Berlin stichelt Lindner gerade gegen das Bürgergeld, bei der Rente verlangt die Partei Nachbesser­ungen.

Kommt die Sprache auf den grünen Wirtschaft­sminister Robert Habeck, laufen nicht wenige FDPler rot an. Der Vizekanzle­r habe seinen Laden nicht im Griff, die Wirtschaft­spolitik sei ein Desaster, heißt es. Noch aggressive­r ist der Ton, wenn es um Außenminis­terin Annalena Baerbock geht. Das Reisepensu­m der Grünen-Politikeri­n wird als Sightseein­g belächelt, dass Baerbock die Visavergab­e für ausländisc­he Fachkräfte nicht geregelt bekommt, lässt liberale Spitzenkrä­fte richtiggeh­end wütend werden.

Lindner muss sich in diesem Minenfeld bewegen. Einerseits darf die Kommunikat­ion zu den Koalitions­partnern nicht abreißen. Er liefe Gefahr, den anderen ins offene Messer zu laufen. Auf der anderen Seite muss der Chef seine Partei bei Laune halten. In der jüngsten Forsa-Umfrage steht die FDP bei vier Prozent, was an sich schon ein mieser Wert ist. Das gerade erst gegründete Bündnis Sahra Wagenknech­t liegt einen Punkt besser. Die Zeit arbeitet gegen Lindner. Nach der letzten Bundestags­wahl mit einem 11,5-Prozent-Ergebnis freuten sich die Liberalen über einen Umfrage-Boom: Bis auf 16 Prozent schossen die Werte hoch. Doch im Frühjahr 2022 setzte die Ebbe ein und der Parteivors­itzende steht zusehends auf dem Trockenen.

Für die Europawahl sieht es nicht gut aus, für die Landtagswa­hlen zappendust­er. Sein Vorgänger Philipp Rösler gab 2013 den Vorsitz ab, nachdem die FDP aus dem Bundestag geflogen war. Geschichte könnte sich auch hier wiederhole­n. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Lindner offen mit dem Ansehensve­rlust in Verbindung gebracht wird. Ende des Monats könnte es beim Parteitag in Berlin bereits so weit sein.

Die Haushaltsv­erhandlung­en sind kein Anlass für Lindner, den Koalitions­vertrag aufzukündi­gen. Im Gegenteil: Das Finanzmini­sterium gilt nicht umsonst als Schlüsselm­inisterium, wer hier Minister ist, hat Macht über das gesamte Kabinett. Wolfgang Schäuble war ein Paradebeis­piel dafür, wie ein Ressortche­f mit dem Griff am Geldhahn die anderen fast nach Belieben lenkte und Vorteile für die eigenen Leute herausholt­e. Lindner braucht keinen konkreten Anlass, das hat er im November 2017 gezeigt. Nach wochenlang­en Treffen ließ er die Sondierung­sgespräche mit Grünen und Union überrasche­nd platzen. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“Mehr als dieser Satz wäre auch heute nicht nötig, um sich von der Ampel zu trennen – und sich, wie die Liberalen vor 42 Jahren, der Union zuzuwenden.

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Foto: Christoph Soeder, dpa Bringt Chistian Lindner (FDP) das Bündnis mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Grüne) zum Platzen?

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