„Noch nie habe ich so ein Beben gespürt“
Die gesamte Insel Taiwan ist im Schockzustand. Eine Naturkatastrophe wie seit fast 25 Jahren nicht mehr richtet vielerorts Verwüstung an. Mindestens neun Menschen sterben, es gibt über 960 Verletzte.
Taipeh Gespenstisch neigt sich das mehrstöckige Wohnhaus in Hualien im Osten Taiwans zur Straße. Jeden Moment könnte es umkippen. So wirkt es zumindest. Ein schweres Erdbeben hat am Mittwochmorgen (Ortszeit) an vielen Orten der ostasiatischen Insel ein Bild der Verwüstung hinterlassen. Es gibt Tote, Verletzte und völlig zerstörte Autos und Gebäude. Zwei Deutsche waren zeitweilig in einem Tunnel eingeschlossen. Stunden nach dem Beben liegt die Zahl der Toten bei mindestens neun. Es wird damit gerechnet, dass die Opferzahl weiter steigt.
Um kurz vor 8 Uhr hatte ein Erdbeben die gesamte Insel erschüttert. Es hatte laut taiwanischen Angaben eine Stärke von 7,2 und war das stärkste seit fast 25 Jahren. Sein Epizentrum lag nur wenige Kilometer von Hualien entfernt. Die US-Erdbebenwarte registrierte eine Stärke von 7,4. In Japan wurde sogar die Stärke 7,7 gemessen. Allein um Hualien werden selbst acht Stunden nach dem Beben noch mehr als 100 Nachbeben registriert..
Am Abend (Ortszeit) sprachen die Behörden von neun Toten und mehr als 960 Verletzen. Mehr als 140Menschen galten noch als eingeschlossen, etwa in Autos in Tunneln. Darunter waren auch 71 Arbeiter, die in zwei Steinbrüchen festsaßen. Die beiden Deutschen wurden später nach Behördenangaben vom Mittwochabend aus dem Tunnel befreit. Details waren noch nicht bekannt. Das Auswärtige Amt in Berlin erklärte, noch Kontakt zu einer Reisegruppe mit 18 Deutschen zu haben, die ursprünglich als vermisst galt, wie ein Sprecher sagte. Den Leuten gehe es den Umständen entsprechend gut.
„Noch nie habe ich so ein Erdbeben gespürt, seit ich vor drei Jahren aus der Hauptstadt Taipeh in die erdbebengefährdete Küstenstadt zog“, sagte ein Bewohner Hualiens. Der Mann befand sich nach eigenen Worten im Büro, als die Erde zu beben begann. „So einen schrecklichen Vorfall haben wir noch nie zuvor gesehen“, sagte der 54-Jährige. In ihm wurden Erinnerungen wach: „Ich dachte an die schreckliche Erfahrung des großen Bebens von 1999.“Damals hatte mitten in Taiwan ein Beben der Stärke 7,3 heftige Zerstörung angerichtet. Es gab mehr als 2400 Todesopfer.
Taiwan liegt am Rand zweier tektonischer Platten: der Eurasischen und der Philippinischen. Die Insel mit mehr als 23 Millionen Einwohnern ist deshalb sehr durch Erdbeben gefährdet. Nach der Katastrophe von 1999 überarbeitete die Regierung ihre Vorgaben, um Gebäude erdbebensicherer zu machen. Außerdem nahm sich Taipeh ein Beispiel am erdbebenerfahrenen Japan und übernahm Maßnahmen zum Katastrophenschutz. Zugleich steckte die Regierung mehr
Geld in Erdbebenüberwachung und baute Stationen zur Echtzeitmessung von Erdaktivitäten im gesamten Land.
Laut Augenzeugen war das Beben auch in und um die Hauptstadt Taipeh deutlich zu spüren. Bewohner berichteten, dass in ihren Häusern und Wohnungen Einrichtungsgegenstände und Geschirr zu Bruch gingen. Mehrere große Städte stellten den öffentlichen Nahverkehr auf der Schiene zeitweilig ein. In Zehntausenden Haushalten fiel der Strom aus. Über mehrere Stunden warnten Taiwan, China, Japan und die Philippinen vor Tsunamis. Später wurden die Warnungen zunächst gelockert und dann aufgehoben. Auf den Philippinen wurden hohe Tsunami-Wellen erwartet, die stundenlang andauern könnten, teilte das nationale Institut für Vulkanologie und Seismologie mit. Menschen wurden aufgefordert, sich in Sicherheit zu bringen. Im Nachbarland China, das Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, war das Erbeben ein Hauptthema in den Nachrichten. Die Behörden seien über die Lage sehr besorgt, sagte die Sprecherin des Büros für Taiwan-Angelegenheiten, Zhu Fenglian, in Peking. Das Festland beobachte die Situation und sei bereit, Katastrophenhilfe anzubieten. Ob Taiwan die Hilfe Chinas annimmt, blieb offen. (Johannes Neudecker, Yu-Tzu Chiu und Dennis Engbarth, dpa)