Demenz soll raus aus der Tabuzone
Verein in Saarlouis erhält bundesweiten Preis für Engagement und Selbsthilfe
Angehörige von Demenzkranken entlasten, Fachkräfte schulen und häusliche Betreuung von Betroffenen sind drei Angebote des Demenz-Vereins Saarlouis. Die landesweit einzigartige Einrichtung erhielt nun den mit 10 000 Euro dotierten Hertie-Preis.
Saarlouis. Seemannslieder sind Herbert Krächans große Leidenschaft. Die Kapitänsmütze auf dem Kopf, die roten Klangstäbe in der Hand, stimmt der 84-Jährige fröhlich an: „Heute an Bord . . .“, und alle übrigen auf der plüschigen Sofaecke fallen mit ein: „. . . morgen geht’s fort!“„Ich bin gerne hier“, sagt der Senior aus Saarlouis-Roden. „Im Stillen denke ich mir dennoch: Irgendetwas stimmt nicht. Früher hatte ich immer so schöne Sprüche auf Lager. Die fallen mir heute nicht mehr ein“, sagt er. Wie die übrigen 20 Gäste der Villa Barbara ist Herbert Krächan an Demenz erkrankt. Sein Sohn und seine Schwiegertochter kümmern sich um ihn, tagsüber verbringt er einige Stunden in der Tagespflege des Demenz-Vereins Saarlouis. Im Flur riecht es nach ausgelassenem Dörrfleisch. Jeden Tag kochen die Betreuer gemeinsam mit ihren Gästen in der offenen Küche.
Die Gäste sind überwiegend Frauen, denn sie sind häufiger von Demenz betroffen, erklärt Pflegedienstleiter Andreas Sauder. Sie stellten rund 80 Prozent der etwa 25 000 Demenzerkrankten im Saarland. Von ihnen werden wiederum 80 Prozent von Angehörigen betreut. Zum Konzept der Villa Barbara gehört, dass die Einrichtung – von rustikalen Schränken aus Nussbaumholz bis hin zu Spitzengardinen und gehäkelten Platzdeckchen – den Gewohnheiten der Senioren entspricht. „Wir wollen eine milieuspezifische Umgebung, keinen Krankenhaus-Charakter“, sagt Diplom-Pädagoge Sauder. Besonders ist auch eine festangestellte Musiktherapeutin, ein besonderes Licht- und Farbkonzept sowie ein hoher Betreuungsschlüssel: Auf zwölf Betroffene kommen fünf Pflegefachkräfte plus Praktikanten und Ehrenamtliche.
Seit November 2012 ist der Verein auch Träger der Landesfachstelle Demenz. Mit den in Saarlouis gemachten Erfahrungen begleitet er den Aufbau eines saarlandweiten Netzwerkes mit Hilfsangeboten für an Demenz erkrankte Menschen und ihre Angehörigen.
Für dieses Engagement ist der Demenz-Verein nun mit dem Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe in Höhe von 10 000 Euro ausgezeichnet worden. Mit dem Preis ehrt die Stiftung zum 24. Mal modellhafte Aktivitäten von Selbsthilfegruppen und besonders engagierten Menschen im Bereich der neuro-degenerativen Erkrankungen. „Sie haben das Thema Demenz ungewöhnlich früh erkannt und geschafft, ein Zentrum mit einer großen Anzahl von Einzelprojekten aufzubauen. Ich hoffe, Ihr Modell ist Vorbild für viele“, sagte Eva Koch von der Stiftung. Viel Lob kam auch von Sozialministerin Monika Bachmann (CDU): „Der Demenz-Verein Saarlouis hat überregional Pionierarbeit geleistet und maßgeblich dazu beigetragen, die Situation von Menschen mit Demenz wie aber auch ihren pflegenden Angehörigen zu verbessern.“Nach wie vor sei die Einrichtung die einzige ihrer Art im Saarland.
Während im Erdgeschoss geschunkelt wird, ist im ersten Stock eine Baustelle: Hier soll noch in diesem Jahr eine zweite auf Demenzkranke spezialisier- te Tagespflege mit 20 weiteren Plätzen entstehen. Da nicht jeder Betroffene täglich kommt, besuchen die Villa Barbara bis zu 90 Personen in der Woche.
Die Tagespflege ist nur eines der Angebote des 1997 gegründeten Demenz-Vereins. Er berät pro Jahr über 700 Angehörige und gibt ihnen einen Raum zum Austausch, bietet Schulungen für Ehrenamtliche an und bildet Fachkräfte weiter – auch in Krankenhäusern. In diesem Jahr organisiert er zum 18. Mal mit Partnern einen Demenzkongress. Die 27 Mitarbeiter und 40 Ehrenamtlichen betreuen Demenzkranke stundenweise auch zu Hause.
Ziel ist es, dass Patienten nicht oder möglichst spät ins Heim müssen. „Ohne den Verein hätte ich meinen Beruf aufgeben müssen, um mich um meine Mutter zu kümmern“, erzählt eine Angehörige, die anonym bleiben will.
Noch immer sei die Krankheit mit Tabus belegt, doch es gebe Bewegung: „Früher kamen die Angehörigen erst, als es höchste Zeit war. Heute kommt ein Sohn früher, um sich zu erkundigen, ob die Vergesslichkeit seines Vaters eine Demenz sein könnte“, sagt Andreas Sauder.