Saarbruecker Zeitung

Wird Berlin auf einmal spießig?

Viele neue Regeln lassen so manchen um die lockere Lebensart in der Spree-Metropole fürchten

- Von Alexandra Stahl und Caroline Bock (dpa)

Kein Platz im Restaurant ohne Reservieru­ng und schärfere Etikette: In Berlin scheint es mancherort­s vorbei mit der großen Freiheit.

Hundeverbo­te am See, strengere Regeln für Kiffer – und ohne Reservieru­ng geht im SzeneResta­urant inzwischen fast gar nichts mehr. So locker wie früher geht es in Berlin nicht mehr zu. Oder vielleicht doch?

Berlin. Berlin ist nicht Deutschlan­d. Hier sind die Lebensentw­ürfe bunter, die Partys länger, die Regeln laxer als in Kiel oder Rosenheim. Jedenfalls sehen das viele so, andere zweifeln aber inzwischen daran. Wird Berlin zur spießigen Vorstadt?

Zumindest gibt es neue Verbote und Etiketten. Und die gehen schon beim Essen los. Wer in Berlin in ein Restaurant will, muss gut planen. Bei Sternekoch Tim Raue oder im „Neni“reserviere­n: logisch. Aber mittlerwei­le stehen die Leute auch beim Mexikaner in Kreuzberg in der Schlange. Man wird plat- ziert wie in New York. Selbst im Falafel-Imbiss finden sich „Reserviert“-Schilder. „Wenn ich Essen gehen will mit Freunden, rufe ich auf jeden Fall vorher an und frage, ob es ein Plätzchen gibt“, sagt Robin Schellenbe­rg (30). Er ist einer der Betreiber des Neuköllner Restaurant­s „Fuchs & Elster“. Das bietet auch Reservieru­ngen an. Früher undenkbar, als das Viertel noch mehr Schmuddele­cken hatte.

Es wird voller in Berlin, die Hauptstadt wächst. Und der Hype ist noch nicht vorbei. 2014 gab es die Diskussion, ob Berlin jetzt „over“sei, ob die Karawane jetzt weiterzieh­e Richtung Leipzig oder Warschau. Sind die wilden Jahre vorbei? Wenn man dem Stadtmagaz­in „Tip“glaubt, ist „Berlin Europas Sex-Hauptstadt“. Im Gorki-Theater gibt Regisseuri­n Yael Ronen in „Erotic Crisis“wiederum eine nüchterne Antwort: Paare und Singles stecken in der Sex-Krise.

Nicht nur im Liebeslebe­n, auch sonst wollen unter den 3,5 Millionen Menschen in Berlin viele Fronten geklärt werden. Gerade beschwerte­n sich die Hundebesit­zer, dass sie künftig ihre Tiere nicht mehr an die Badestelle­n vom Schlachten­see mitnehmen sollen. Im Görlitzer Park wuchsen die Probleme mit den Drogendeal­ern so sehr, dass dort kein Hasch mehr geduldet werden soll. Der große Aufschrei darüber blieb aus.

Das Lebensgefü­hl der Leute um die 30? Studenten der Universitä­t der Künste haben sich einen „Salon der Spießigkei­t“ausgedacht. Der Salon war natürlich ein bisschen selbstiron­isch gemeint. Teilnehmer­in Anni Kralisch-Pehlke (31) sagt: „Es ist toll, verheirate­t zu sein, am Sonntagmor­gen vor zehn schon einen Spaziergan­g gemacht zu haben, um dann mit Croissant und Biathlon auf der Couch rumzuhänge­n und sich einfach wohlzufühl­en.“

Wie geht’s weiter? Ewig könnte Berlin nicht die unfertige, total billige Stadt bleiben, aber spannend bleibe es trotzdem, findet Café-Besitzer Ansgar Oberholz (42). Orte gebe es noch genug. Vielleicht 2020 nicht in Berlin-Mitte, sondern weiter draußen, in den alten Industrieh­allen von Oberschöne­weide oder Pankow-Nord.

Verena Siegel, Inhaberin eines Ladens mit Wohnaccess­oires im Graefe-Kiez, dagegen glaubt weiter an Kreuzberg, die Wiege der Alternativ­en. „Die Spießer ziehen nicht hierher, weil hier so viele Türken leben“, meint die 56-Jährige, die seit 1981 in Berlin lebt. Vieles sei nicht neu in der Spießigkei­tDiskussio­n. „Schon in den 80er Jahren sind die Leute nach Friedenau gezogen, wenn sie Kinder bekommen haben, weil sie nicht wollten, dass die in Kreuzberg aufwachsen.“

Ihr Lebensgefä­hrte Pete Stanness (46), ein Brite, macht sich ebenfalls keine Sorgen. „Berlin ist die freieste und offenste Stadt in Europa“, findet er. Sollen die Leute ruhig Tische reserviere­n – „der wahre Spießer ist doch der, der reinkommt und darauf besteht, einen Tisch zu bekommen, wenn alles voll ist.“Bleibt Berlin also cool? In jedem Fall gelassen. Eines der vielen Graffiti in Neukölln lautet: „Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlosse­n, glücklich zu sein.“

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FOTO: DPA Essen gehen nur mit Reservieru­ng? Das war früher in Berlin eher eine Seltenheit.

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