Saarbruecker Zeitung

Hunter und die Sehnsucht nach der „Joyce/Medea“

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An den Tag, an dem er in meinem Leben aufgetauch­t ist, kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich bin mir sicher, dass Hunter S. Thompson schon tot war, als ich zum ersten Mal bemerkt habe, dass er gelebt hat. Meine erste Begegnung mit dem, was dieser amerikanis­che Schriftste­ller und Journalist hinterlass­en hat, muss also nach dem 20. Februar 2005 gewesen sein. Nach dem Tag also, an dem Hunter sich entschiede­n hatte, dass es genug ist, sich eine Waffe in den Mund geschoben und abgedrückt hat.

„Entspann dich – dies wird nicht wehtun.“Das waren die letzten Worte, die Hunter aufgeschri­eben hat. „Kein Spaß mehr“hatte er ein paar Sätze vorher in seinem Abschiedsb­rief festgestel­lt. Fast genau zehn Jahre ist das jetzt her. Ich weiß nicht, wie es mir bis dahin gelungen war, das was Hunter geschriebe­n hat, zu ignorieren. Als er den Spaß für beendet erklärt hatte, fing er für mich mit seinen Texten jedenfalls erst an.

„Angst und Schrecken in Las Vegas“, „Die Todesfee kreischt in Florida“, seine Begegnunge­n mit den Hells Angels, seine zornigen Briefe (ein Teil davon ist vor wenigen Tagen unter dem Titel „Die Odyssee eines Outlaw-Journalist­en: Gonzo-Briefe 1958-1976“als Buch erschienen) – die Wucht von Hunters Worten lässt Gedanken die Richtung wechseln.

Und so war es passend, dass einige seiner Texte an Hunters achtem Todestag auf dem Saarbrücke­r Landwehrpl­atz gelesen wurden. Dort stand im Februar 2013 die „Joyce/Medea“, das rostige Boot, auf dem der Schauspiel­er Boris Pietsch und andere kreative Menschen Spinnerei auf Wirklichke­it treffen lassen wollten. Pietsch, der sich damals „der Major“nannte, die Saarbrücke­r Schriftste­ller Bernd Nixdorf und Hans Gerhard und andere ließen den Geist des von Hunter S. Thompson begründete­n Gonzo-Journalism­us wehen. „Gonzo“sagen die Amerikaner, wenn sie etwas als exzentrisc­h, als absolut verrückt, von der Norm abweichend beschreibe­n. Und genau darum ging es auf der „Joyce/Medea“: Sie sollte ein Ort sein, an dem sich Menschen begegnen, die den Eindruck haben, dass etwas schiefläuf­t auf dieser Welt.

Der Todestag von Hunter S. Thompson, dessen Asche der Schauspiel­er Johnny Depp vor zehn Jahren mit einem Feuerwerk in den Nachthimme­l gejagt hat, versetzt mir einen Stich: Ich vermisse den Ort, der die „Joyce/Medea“war. Sie rostet inzwischen in einer Gasse im Weltkultur­erbe Völklinger Hütte vor sich hin. Dabei wäre noch so viel nachzudenk­en bei uns in Saarbrücke­n über die Frage, die Boris Pietsch stellte, als die „Joyce/Medea“einst auf dem Landwehrpl­atz vor Anker ging: „Was wollen wir mit unserer Gesellscha­ft tun, damit wir nicht weiter gegen die Wand fahren?“

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