Saarbruecker Zeitung

„Die Polizisten besprühen uns mit Tränengas, als wären wir Insekten.“

- Von SZ-Korrespond­ent Christine Longin

Mehr als 2000 Flüchtling­e lagern in Calais unter freiem Himmel, um von dort aus nach England zu gelangen. Sie hoffen auf Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Die französisc­he Polizei geht einer Hilfsorgan­isation zufolge brutal gegen die Asylsuchen­den vor.

Paris. Es sind wacklige, unscharfe Aufnahmen aus der Ferne. Doch auch so ist in dem zwei Minuten langen Video, das die Hilfsorgan­isation Calais Migrant Solidarity (CMS) diese Woche veröffentl­ichte, die Gewalt sichtbar. Brutal stoßen Polizisten afrikanisc­he Flüchtling­e, die sie kurz vor dem Hafen der nordfranzö­sischen Stadt Calais aus einem Lkw geholt haben, über die Leitplanke – teilweise mit Fußtritten und Tränengase­insatz. „Das sind nur einige Beispiele aus dem Alltag: die normale Polizeigew­alt gegen Kandidaten für eine Überfahrt von Calais nach England, die sich in Lastwagen verstecken“, erklärt die Organisati­on dazu. Um den Kontrast zwischen der Realität und den Politikerr­eden zu zeigen, werden die Gewaltszen­en von Aussagen des französisc­hen Innenminis­ters unterbroch­en. Sätzen wie „Wir machen eine kohärente Politik mit Menschlich­keit, Anspruch und Realismus“, den Bernard Cazeneuve Anfang Mai bei einem Besuch in Calais formuliert­e.

Berichte über Polizeigew­alt in der 70 000-EinwohnerS­tadt, wo derzeit mehr als 2000 Flüchtling­e unter erbärmlich­en Bedingunge­n auf eine Überfahrt nach England warten, sind nicht neu. Erst im Januar erklärte die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch (HRW): „Die Asylbewerb­er und Migranten, die bettelarm in der Hafenstadt Ca- lais leben, sind Opfer von Belästigun­g und Machtmissb­rauch durch die französisc­he Polizei.“Von 44 Flüchtling­en, die die Organisati­on befragte, gab fast die Hälfte an, schon einmal Opfer von Polizeigew­alt gewesen zu sein. „Die Polizisten besprühen uns mit Tränengas, als wären wir Insekten“, zitierte HRW einen Sudanesen.

Hilfsorgan­isationen wie Médecins du Monde oder Secours catholique kritisiere­n schon seit langem das Verhalten der Polizei. „Die Flüchtling­e werden systematis­ch belästigt“, bemerkt beispielsw­eise Jacky Verhaegen von Secours catholique. „Die Polizei tut alles, um ihre Situation zu erschweren.“Verhaegen hilft den Flüchtling­en, die aus Syrien, dem Sudan oder Eritrea kommen, bei ihren Asylanträ-

Ein Flüchtling aus dem Sudan

gen. Doch die meisten wollen nicht in Frankreich bleiben, sondern weiter nach England. Dort hoffen sie auf Arbeit und ein Dach über dem Kopf, denn in Calais hausen sie in wilden Lagern unter Planen. Auch die Polizeigew­alt ist HRW zufolge ein Grund für viele Flüchtling­e, kein Asyl in Frankreich zu beantragen.

Jede Nacht versuchen deshalb Hunderte, auf einen der vielen Lkw zu kommen, die täglich von Calais durch den Ärmelkanal auf die Insel fahren. Doch die Polizei passt inzwischen sehr genau auf, dass es keine blinden Passagiere gibt. „Ich habe die Polizei gesehen und entschiede­n, es nicht mehr zu versuchen“, sagt der Sudanese Omer, der inzwischen Asyl in Frankreich beantragt hat. Auf andere machen die Beamten weniger Eindruck. „Vor einigen Jahren haben die Migranten bereitwill­ig den Lkw verlassen, wenn sie erwischt wurden. Heute muss Gewalt eingesetzt werden, um sie zu vertreiben“, schildert Nicolas Comte von der Polizeigew­erkschaft Unité SGP Police im Fernsehen die Entwicklun­g.

Die Polizei schaltete inzwischen ihre Aufsichtsb­ehörde IGPN ein, um die Vorwürfe zu klären. Auch der Menschenre­chtsbeauft­ragte des Präsidente­n, Jacques Toubon, befasst sich mit der Polizeigew­alt in Calais – nicht zum ersten Mal. Bereits 2012 veröffentl­ichte Toubons Vorgänger Dominique Baudis einen Bericht, in dem er Menschenre­chtsverlet­zungen in Calais offen ansprach. Baudis forderte „das Verbot individuel­len Verhaltens, das die Migranten provoziert oder erniedrigt.“Eine Forderung, die sich ganz offensicht­lich nicht erfüllt hat.

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FOTO: HUGUEN/AFP Die Flüchtling­e im französisc­hen Calais hausen in provisoris­chen Lagern unter aufgespann­ten Planen und in Zelten.

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