Saarbruecker Zeitung

Der Islamische Staat, eine vielköpfig­e Schlange

Angriffe gegen seine Führung schwächen das Terror-Netzwerk kaum

- Von SZ-Mitarbeite­rin Birgit Cerha

Beirut. Seit vielen Wochen fehlte jedes Lebenszeic­hen von Abu Bakr Al-Bagdadi. Hatte ein Luftschlag der von Washington geführten Koalition den selbst ernannten „Kalifen“des Islamische­n Staates (IS) Mitte März so schwer verletzt, dass er die Terrormili­z nicht länger führen kann? Das jedenfalls hatte der britische „Guardian“berichtet. Doch jetzt kursiert eine neue Audiobotsc­haft Bagdadis, die klarstelle­n soll: „Ich bin wieder da.“In aggressive­m Ton ruft er darin alle Muslime weltweit auf, ins „Kalifat“einzuwande­rn oder in ihren eigenen Ländern zu kämpfen – „wo immer dies ist“.

Nur wenige Stunden zuvor hatte das irakische Verteidigu­ngsministe­rium vermeldet, Bagdadis „rechte Hand“Abu Alaa Al-Afri sei bei einem US-Luftschlag im Irak getötet worden. Er soll nach Bagdadis Verletzung vorübergeh­end mit der Führung des IS betraut worden sein. Sowohl der Zeitpunkt als auch Inhalt und Ton von Bagdadis Botschaft lassen auf beträchtli­che Nervosität in IS-Führungskr­eisen schließen, zumal der Kampf der Miliz im Irak und in Syrien zuletzt an Schwung verloren hatte. Erst vor wenigen Tagen setzten die USA auf Al-Afri und drei andere ranghohe IS-Vertreter Kopfgelder von mehreren Millionen Dollar aus – eine Taktik, die Konkurrenz­kämpfe zwischen führenden ISMitglied­ern verschärfe­n und den Zusammenha­lt des Netzwerks empfindlic­h schwächen könnte.

Berichte über einen beginnende­n Niedergang des IS dürften allerdings mehr Wunschdenk­en entspringe­n als der Realität. Militärisc­h hat die Terrormili­z zwar im Irak wie in Syrien Verluste erlitten. Dennoch versucht die irakische Armee seit Wochen erfolglos, massive Angriffe auf die größte Raffinerie Baidschi endgültig abzuwehren. Im Westen des Landes brachte der IS jetzt die Provinzhau­ptstadt Ramadi fast vollständi­g unter seine Kontrolle, während er in Syrien auf die weltberühm­te Kulturstät­te Palmyra vorrückt. Die Islamisten sind also weiterhin in der Lage, in beiden Ländern gleichzeit­ig militärisc­he Offensiven zu führen.

Die Frage, ob der IS den Verlust wichtiger Führer wie Al-Afri und Bagdadi verkraften könnte, beantworte­t der private US- Geheimdien­st Stratfor recht klar: Die Organisati­on sei inzwischen sehr groß und weit verzweigt. Nach Einschätzu­ng der Experten praktizier­t der IS zudem eine weitreiche­nde Arbeitstei­lung und verfügt über zahlreiche „arbeitslos­e Kräfte“, die einspringe­n können. Bagdadi hatte schon den Vorläufer des IS, die Al- Qaida, zu neuer Stärke gebracht, nachdem deren Chef Abu Musab al-Zarqawi 2010 bei einer US-Luftattack­e getötet worden war. Beim IS baute Bagdadi ein dicht geflochten­es Netzwerk auf, was die Organisati­on extrem widerstand­sfähig macht. Der Miliz gehören viele Salafisten­führer an, die jederzeit die organisato­rische Leitung übernehmen können. Und die wichtigste­n militärisc­hen Köpfe haben den Krieg bislang überlebt.

Dennoch wäre ein Ausscheide­n Bagdadis von symbolisch­er und psychologi­scher Bedeutung. Der „Kalif“hat sich als äußerst geschickte­r und anpassungs­fähiger Führer erwiesen, der die Islamisten-Miliz zum derzeit gefährlich­sten Terror-Netzwerk ausbaute. „Ohne ihn“, meint ein Experte, „müsste sich der IS neu erfinden.“Wahr ist aber auch: Gerade unter Bagdadi lernten die Islamisten die flexible Abwehr neuer Gefahren – und die Kunst der raschen Anpassung an veränderte Gegebenhei­ten.

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