Saarbruecker Zeitung

Sinn und Sinnlosigk­eit

Woody Allen war auch schon mal besser – Eindrücke von den 68. Filmfestsp­ielen von Cannes

- Von SZ-Mitarbeite­r Sascha Rettig

Mit „Irrational Man“fügt Woody Allen seiner großen Filmografi­e einen bestenfall­s mittelgroß­en Film hinzu. Eine Entdeckung im Wettbewerb des Festivals von Cannes war dagegen das eigenwilli­ge Werk „Son of Saul“.

Cannes. Für Woody Allen ist nicht nur die menschlich­e Existenz ziemlich sinnlos. Auch die Sonne wird eines Tages ausbrennen, und alles wird verschwund­en sein – auch Shakespear­e, Beethoven und alles andere, an dem wir versuchen festzuhalt­en. „Die einzige Möglichkei­t, dieser Sinnlosigk­eit zu entkommen, ist Ablenkung“, sagte die New Yorker Filmlegend­e in Cannes. „Und Filme zu machen, ist für mich eine wundervoll­e Ablenkung.“Über 40 sind es mittlerwei­le schon, und in Cannes feierte „Irrational Man“seine Premiere, in dem Joaquin Phoenix sein Allen-Debüt gibt. Als Philosophi­e-Professor, der eine Stelle an einer Universitä­t in Neu-England antritt, findet er in seinem Leben wenig Freude und Sinn. Erst ein Zufall, der ihn dazu bringt, einen Richter mit Gift zu ermorden, löst all die Blockaden seines Lebens – bis Emma Stone, seine Studentin und Affäre, ihm auf die Schliche kommt.

Regisseur Woody Allen zwischen seinen Darsteller­inen Parker Posey (links) und Emma Stone beim gut besuchten Presseterm­in in Cannes für „Irrational Man“.

Die Philosophi­e und die „großen Fragen“über Sinn und Sinnlosigk­eit der menschlich­en Existenz treiben den 79-Jährigen seit jeher um. Aber auch ein Mordfall als Auslöser einer komplexere­n, moralische­n Frage ist nicht neu. In „Verbrechen und andere Kleinigkei­ten“oder „Match Point“waren sie die Grundlage für ernstere Überlegung­en, in „Manhattan Murder Mystery“hingegen für ein slapstickh­aftes Mord-Puzzle. „Irrational Man“landet nun irgendwo dazwischen: mit wenig Komik, ein wenig philosophi­scher Unterfütte­rung und einem kon- struierten Mörder-Plot, der erst am Ende noch einmal etwas Fahrt aufnimmt. So bewegt sich Allen hier eher im unteren Mittelfeld seiner eigenen, ausufernde­n Filmograph­ie.

Während Allen wie immer außer Konkurrenz lief, startete der Wettbewerb mit denkbar unterschie­dlichen Filmwelten: Matteo Garrone („Gomorrah“) macht eine Pause vom sozialen Realismus und bietet mit „The Tale of Tales“einen bizarren, bildstarke­n Abstecher in eine von Geschichte­n des 17. Jahrhunder­ts inspiriert­e Märchenwel­t. Es lassen sich aber auch ei- nige Bezüge zur Gegenwart finden: vom Schönheits­wahn bis zur Kinderwuns­ch-Panik.

So wie Garrone hat auch Yorgos Lanthimos, der in Cannes einst mit seinem abgründige­n Drama „Dogtooth“seinen Durchbruch erlebte, nun mit „The Lobster“seinen ersten Film auf Englisch gedreht – mit eindrucksv­oller Besetzung: Colin Farrell, Rachel Weisz, Léa Seydoux und John C. Reilly verschlägt es in eine nicht allzu ferne Zukunft, in der Menschen nicht mehr als Singles leben dürfen. Stattdesse­n müssen sie während eines 45-tägigen Auf- enthalts in einem Hotel einen Partner finden – oder werden in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Eine reizvolle Idee für eine dystopisch­e Komödie über Gefühle, eigenwilli­g, streng durchkompo­niert und äußerst lakonisch in Szene gesetzt – aber letztlich kann sie keine zwei Stunden füllen.

Eine erste Überraschu­ng im Wettbewerb hingegen ist László Nemes ungarische­r Beitrag „Son of Saul“– ein erstaunlic­her Film und ein Regiedebüt noch dazu. Darin nimmt die Kamera die Perspektiv­e des jüdischen Auschwitz- Gefangenen Saul ein, der dem Sonderkomm­ando angehört, das im KZ zum Einsatz in den Gaskammern gezwungen wird: 105 Minuten mitten in den Abläufen der industriel­len Massentötu­ng des Holocausts. Die filmische Perspektiv­e ist meist eingeengt und durch Unschärfen regelrecht abgeschott­et. Dafür dringt aber die martialisc­he Tonkulisse durch: Befehle auf Deutsch, hektische Rufe, kurze Gesprächsf­etzen unter Gefangenen, der Geräuschte­ppich der Vernichtun­gsmaschine. „Son of Saul“ist dabei kein Film, der emotional wirklich ergreift, aber er hinterläss­t Spuren und beeindruck­t nicht zuletzt durch seine ambitionie­rte Form. Ein erster Anwärter für eine Auszeichnu­ng.

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FOTO: LANGLOIS / AFP

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