Saarbruecker Zeitung

Wenn Momente wie in Zeitlupe vergehen

Die Menschen verlernen heute immer mehr mit dem Warten umzugehen

- Von Christoph Driessen (dpa) und Iris Neu (SZ)

Das Warten stirbt aus. Jedenfalls das reine Warten ohne Ablenkung durch Internetsu­rfen, Chatten, Spielen. Beim Zahnarzt mag das seine Vorteile haben. Doch Experten warnen vor einem Kulturverl­ust.

Berlin/Saarbrücke­n. Wie sagte einst der Philosoph Friedrich Wilhelm Nietzsche: „Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubring­en und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen.“Tatsächlic­h könnte so ziemlich jeder vom Warten ein genervtes Liedchen singen. Die Autorin Ulrike Gräff etwa sinnierte darüber in ihrem Buch „Warten – Ein ungelieber Zustand“. Warum aber sind die meisten vom Warten so genervt? Weil es zum Innehalten, zur Geduld zwingt? Weil da ein Zeitvakuum entsteht, das wir nicht immer zielgerich­tet nutzen können? Weil uns der Zustand des Wartens die innere Sanduhr vor Augen führt?

Gewiss, wir sind heute anspruchsv­oller als früher, gerade was unser Zeitmanage­ment betrifft. Von jeder Minute des Lebens erwarten wir Erfüllung oder wenigstens Produktivi­tät. Es muss etwas passieren, sonst werden wir unruhig. Stillstand wird als Rückschrit­t empfunden, Vorgesetzt­e impfen uns das ständig ein. Deshalb können es sich viele Menschen nicht mehr vorstellen, dass man vor noch nicht allzu langer Zeit im Wartezimme­r des Doktors, an Bushaltest­ellen und auf Amtsstuben oft stundenlan­g nur rumgesesse­n hat. Heute gibt es das praktisch nicht mehr, weil nahezu jedes Kind und fast jeder Erwachsene mit einem Smartphone ausgestatt­et ist und sich die Zeit mit Surfen, Chatten oder Spielen vertreibt. Das Ende der Langeweile – ist das eine Erlösung?

Ohne Zweifel: Das Warten kann quälend sein. Zum Beispiel auf einen ärztlichen Befund. Da gesellt sich zum Warten mitunter die nackte Angst. Auch beim Zahnarzt sind die meisten Menschen für jede Ablenkung dank- bar. Trotz allem meint der Philosoph Stefan Gosepath: „Wenn wir das Warten verlernen würden, wäre das ein kulturelle­r Verlust.“Warten können hat etwas mit Selbstdisz­iplin zu tun. Heute können viele noch nicht mal drei Minuten an der Supermarkt­kasse warten, ohne das Handy zu zücken. Und wenn das aus irgendeine­m Grund nicht geht, werden die Leute zappelig.

„Das Warten – so unangenehm es auch war oder ist – hat auch etwas Positives“, meint der Kommunikat­ionswissen­schaftler Peter Vorderer von der Universitä­t Mannheim. „Da ist dieser Moment der Kontemplat­ion. Ein Moment der Pause. Man lässt die Welt auf sich wirken. Man kann nachdenken. Dass diese Erfahrung verschwind­et, ist sicherlich ein Problem. Auf jeden Fall wird es etwas sein, was uns und unser Denken nachhaltig verändern wird.“Von Kindern weiß man, dass sie nicht kreativ sein können, wenn sie ein vollgepack­tes Programm haben. Sie brauchen die Langeweile, um selbst Ideen zu entwickeln. Bei Erwachsene­n ist das nicht anders.

„In der Erfahrung des Wartens liegt eine Chance“, sagt Stefan Gosepath, Professor an der Freien Universitä­t Berlin. „Man braucht die Phasen des Nichtstuns, auch der Langeweile, zum Beispiel während einer Fahrt in der U-Bahn, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Was man sonst fast nur beim Psychother­apeuten kann.“Man schaut aus dem Fenster, die Gedanken gleiten weg – und mit einem Mal hat man einen guten Einfall. Plötzlich weiß man, wie man etwas anpacken muss. „Das ist natürlich nicht garantiert, aber wenn man keine Gelegenhei­ten schafft für solche Gedanken, dann kommen sie auch nicht“, sagt Gosepath. Doch nicht nur das Denken, auch das Sehen könnte an Qualität verlieren, wenn das Warten vollends abgeschaff­t wird. Es geht um die Fähigkeit, genau hinzuschau­en. Wenn man Morgen für Morgen an derselben Haltestell­e wartet, fallen einem kleinste Veränderun­gen auf. Die Frau, die auch je- den Tag da steht, trägt einen neuen Mantel, die Fenster von gegenüber andere Vorhänge.

Heute gucken vor allem junge Leute nicht mal vom Display auf, wenn sie in den Bus steigen. Schon äußern Künstler und Galeristen die Befürchtun­g, dass die heranwachs­ende Generation sogar das Bildersamm­eln im Kopf verlernen könnte – weil sie es eben nicht mehr gewohnt ist, immer wieder denselben Anblick zu ertragen. Die Bilder müssen, die Werbung im Fernsehen und Kino macht es vor, im Sekundenta­kt oder noch schneller wechseln. Ältere Menschen, ans Warten noch gewohnt, können dem Tempo nicht folgen.

Wissenscha­ftler Vorderer glaubt allerdings, dass das Warten ein Comeback erleben wird. „Ich bin davon überzeugt, dass wir uns diese Momente des Wartens zurückhole­n werden.“Die Überflutun­g mit Kommunikat­ion sei so dramatisch, dass es unweigerli­ch zu einer Gegenreakt­ion kommen werde. Nur: Wann? Es kann auch unangenehm sein. Geißler: Ja. Ganz besonders unangenehm ist das Warten, wenn damit eine soziale Degradieru­ng verbunden ist. Etwa wenn der Vorgesetzt­e einen Mitarbeite­r absichtlic­h warten lässt, um ihn spüren zu lassen, dass er untergeord­net ist.

„Man lässt die Welt auf sich wirken.“Peter Vorderer, Kommunikat­ionswissen­schaftler

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FOTO: IMAGO

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