„Warten ist geringerwertig als aktive Zeit“
Warten empfinden Menschen oft als Nichtstun. Warum, erklärt Karlheinz Geißler, früherer Wirtschaftsprofessor der Bundeswehr-Universität und Buchautor, SZ-Redakteurin Iris Neu.
Herr Geißler, warum fällt uns das Warten so schwer? Geißler: Weil wir es für verlorene Zeit halten. Und für verlorene Zeit halten wir es, weil wir Zeit in Geld verrechnen. Begonnen hat das mit der Industrialisierung: Während des Wartens kann kein Geld verdient oder ausgegeben werden. Aber man denkt beim Warten nicht ständig an verlorenes Geld. Geißler: Natürlich nicht. Aber es wird uns von Kindesbeinen an suggeriert, dass Warten Nichtstun ist, also verlorene oder passive Zeit. Und passive Zeit ist in unserer Gegenwart geringerwertig als aktive Zeit. Das steckt tief in uns drin. Ist es nicht auch das Gefühl, dass Warten uns der Chance beraubt, unsere Zeit mit Sinn zu füllen? Geißler: Eigentlich kann man doch gerade beim Warten viel Sinnvolles machen: die Umgebung betrachten, nachdenken, mit Leuten reden etc. In Grimms Wörterbuch, das vor fast 180 Jahren erschienen ist, steht nichts von verlorener Zeit. Dort wird warten gebraucht im Sinne von pflegen, wohin schauen; es bedeutet etwas Fürsorgliches. In dem Sinne, wie wir heute unser Auto warten. Es ist also ein Bedeutungswandel eingetreten. Und der hat etwas mit der Beschleunigung zu tun und mit der Verrechnung von Zeit in Geld. Welche positiven Seiten gewinnen Sie dem Warten noch ab? Geißler: Walter Benjamin sagte einmal über Frauen, dass sie umso schöner würden, je länger er am Bahnhof auf sie warten muss. Wenn Warten also mit Erwartung verbunden ist, dann ist es immer auch ein spannendes, ein hoffnungsvolles Warten. So wie Kinder mit dem Adventskalender auf Weihnachten warten.