Saarbruecker Zeitung

Nu(h)r ein normales Schmähgewi­tter?

Wieso das Netz auf Promis einprügelt und warum das gut für die Demokratie sein soll

- Von dpa-Mitarbeite­r Christoph Driessen

Ein falsches Wort kann ausreichen, und schon zieht ein sogenannte­r Shitstorm herauf. Ist das moderne Hexenverfo­lgung – oder haben die Mächtigen nur ein Problem damit, dass jetzt auch jeder andere seine Meinung sagen kann?

Berlin. Was verbindet Angela Merkel, Til Schweiger und Dieter Nuhr? Alle mussten in jüngster Zeit einen „Shitstorm“über sich ergehen lassen. Gegen die Kanzlerin richtete sich ein Schmähgewi­tter, nachdem sie ein Flüchtling­smädchen – unabsichtl­ich – zum Weinen gebracht hatte. Auf Schweigers FacebookSe­ite posteten Dutzende Nutzer ausländerf­eindliche Kommentare wegen eines Hinweises auf eine Spendenakt­ion für Flüchtling­e. Und über den Kabarettis­ten Dieter Nuhr rollte die Empörungsw­elle nach einer ironischen Bemerkung über Griechenla­nd hinweg.

In der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“setzte Nuhr sich zur Wehr: Die Anonymität des Internets bedeute „einen zivilisato­rischen Rückschrit­t in Richtung Faschismus und Mittelalte­r, Pogrom und Hexenverbr­ennung.“

Dagegen regt sich Widerspruc­h: „Ich halte die pauschale Shitstorm-Kritik der letzten Tage für falsch“, sagt der Tübinger Professor Bernhard Pörksen. „Hier zeigt sich, bei aller berechtigt­en Empörung über eine ungehemmte Aggression, eben auch eine Publikumsv­erachtung, die nur die Fronten verhärtet.“

Hexenverbr­ennung oder Publikumsv­erachtung – was stimmt? Eine pauschale Antwort ist schon deshalb unmöglich, weil die Treiber eines Shitstorms denkbar unterschie­dlich sind. Am einen Ende des Spektrums stehen Neonazis und andere Menschenve­rächter. Wenn es um Flüchtling­e geht, müssen die Kommentarf­unktionen von Zeitungen mitunter gesperrt werden. Bis hin zu Morddrohun­gen ist alles dabei. Das hat Nuhr im Blick, wenn er davon spricht, dass die „Vernichtun­g der abweichend­en Meinung“angestrebt werde: „Ein Shitstorm ist ein Massenaufl­auf, der zum Ziel hat, den Andersdenk­enden mundtot zu machen.“

Dann gibt es jene, die grundsätzl­ich gegen alles polemisier­en und so jede Debatte im Keim ersticken: „Trolle“werden sie ge- nannt. Doch diese Gruppen allein können kaum hinter einem richtigen Shitstorm stecken. Denn der wird vom Adressaten ja genau deshalb als Sturm empfunden, weil so unglaublic­h viele Schmähunge­n auf ihn einprassel­n. Die Wahrheit ist: Auch ganz normale Leute haben sich daran gewöhnt, im Internet sehr deutlich ihre Meinung zu sagen.

Prominente sind dabei für viele ein Hilfsmitte­l, um selbst wahrgenomm­en zu werden: „Bei Twitter etwa haben Sie ganz besondere Chancen, wenn Sie jemanden mit einem bekannten Twitter-Account in ihren Tweet aufnehmen und sich dann an eine aktuelle Debatte dranhängen“, erläutert Professor Martin Emmer, der die politische Kommunikat­ion über Online-Medien erforscht. Man kann diesen Nutzern Geltungssu­cht unterstell­en – das würde dann aber auch auf die Promis zutreffen, die ja ebenfalls im Netz unterwegs sind, um wahrgenomm­en zu werden. Wie überhaupt so ziemlich alle mit einem Twitter- oder FacebookAc­count.

Politologe Emmer hält die Entwicklun­g im Prinzip für erfreulich: „Die Öffentlich­keit demokratis­iert sich einfach.“Das Problem beim Shitstorm ist die Schärfe. „Die digitalen Öffentlich­keiten sind sehr viel härter und direkter als all das, was früher in der massenmedi­alen Welt, abgepolste­rt und herausgefi­ltert durch journalist­ische Selektions­mechanisme­n, passiert ist.“

Nach Emmers Auffassung sind Politiker aber selber schuld, wenn sie wie Merkel auf „Schaufenst­erveransta­ltungen ohne das Bemühen um einen ernsthafte­n Dialog“setzten: „Da darf man sich nicht wundern, wenn die Leute eher patzig reagieren.“

Für Pörksen ist der Shitstorm Ausdruck der neuen „Empörungsd­emokratie des digitalen Zeitalters“. In ihm spiegelten sich die großen gesellscha­ftlichen Fragen. So ging es bei der Aufschrei-Debatte zum Beispiel um den alltäglich­en Sexismus gegenüber Frauen. „Wir müssen lernen, den Shitstorm zu lesen, ihn zu dechiffrie­ren.“Die Schmähunge­n müsse man dabei in Gedanken einfach wegstreich­en, rät der Tübinger Professor.

Dieter Nuhr hofft darauf, dass sich das Netz langfristi­g selbst Regeln gibt, „um die digitale Welt in ein bürgerlich­es Zeitalter zu überführen“. Noch vor 100 Jahren kam es in vielen Parlamente­n regelmäßig zu Schlägerei­en. Vielleicht braucht so etwas auch im Netz einfach Zeit.

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FOTO: ACTION PRESS Kabarettis­t Dieter Nuhr polarisier­t, wird so immer wieder Opfer eines Shitstorms.

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