„Die Brutalität im Netz kann auch in der Realität durchbrechen“
Nach Ansicht des Kölner Psychiaters Manfred Lütz können Menschen in der virtuellen Welt verrohen. Dennoch sei Geduld gefragt. Da ein Ende der Schmähgewitter nicht in Sicht sei, warnt er im Gespräch mit SZRedakteur Pascal Becher.
Herr Lütz, Kabarettist Dieter Nuhr warnt davor, dass wir uns mit den Shitstorms auf dem Weg ins Mittelalter befinden. Wie sehen Sie das? Lütz: Ich glaube, das geht noch weit vor das Mittelalter. Eher in die Steinzeit. Es kommen da ungehemmte vorkulturelle Aggressionen durch, die nicht mehr durch kulturelle Üblichkeiten abgebremst werden. Warum ist das so? Lütz: Das liegt an der Anonymität des Internets. Wenn man das Gesicht eines Menschen sieht, dann weckt das erstmal die verinnerlichten Umgangsformen. Ganz automatisch. Beispielsweise beleidigt man sein Gegenüber nicht direkt wüst, nur weil einem dessen Meinung nicht passt. Im Netz gibt es solche Hemmungen nicht. Es besteht ja auch überhaupt keine Gefahr für die eigene Person. Höchstens für den anderen. Ist das quasi digitales Autofahren … Lütz: Durchaus. Durch die geschützte Blechumgebung des Autos können Menschen, die sonst ganz zivilisiert sind, manchmal zu Monstern werden. Es fehlt der direkte Kontakt zum anderen Menschen im anderen Auto. Kann so etwas auch gut sein? Lütz: Nein, man kann den Menschen doch nicht betrachten wie eine Dampfmaschine. Ganz nach dem Motto: Wenn er mal Dampf ablässt, ist es wieder gut. Nein, wenn sich jemand an die- se Brutalität im Internet gewöhnt, dann kann das auch irgendwann in der Realität durchbrechen. Die Menschen verrohen also. Lütz: Die Möglichkeit besteht. Natürlich sollte man die digitale Welt nicht verteufeln. Es müssen sich dort aber erst digitale zivilisierte Üblichkeiten ausbilden. Im Moment ähnelt das eher einer vorzivilisatorischen Welt. In der Geschichte hat es einige tausend Jahre gedauert, bis wir uns nicht mehr gegenseitig die Köpfe eingehauen haben. Wir brauchen also Geduld. Das heißt, auch in Zukunft müssen Menschen sich an Schmähgewitter gewöhnen. Wie sollen sie damit umgeben? Lütz: Es gibt den entlastenden Spruch: Sich ärgern heißt, die Sünden anderer Leute büßen. Manchmal ist es aber auch sicher mehr als ärgern. Deswegen ist es wichtig, dass man in der digitalken Welt, sein Privatleben schützt – damit man nicht allzu sehr verletzt werden kann. Übrigens frage ich Patienten inder Regel, wie viele Freunde sie haben? Wenn sie mehr als Zehn nennen, haben sie wahrscheinlich keine.