Saarbruecker Zeitung

Warum Sitzenblei­ber keine Schulversa­ger sein müssen

Jeder 20. Schüler bricht die Schule ohne Abschluss ab – Saarland schneidet auf dem Weg zur Bildungsre­publik positiv ab

- Von Werner Herpell (dpa) und Pascal Becher (SZ) PRODUKTION DIESER SEITE: PASCAL BECHER, ROBBY LORENZ IRIS NEU

Bis Ende Juli haben es auch die letzten der bundesweit elf Millionen Schüler in Deutschlan­d geschafft: Ferien! Dann beginnen für die meisten von ihnen die schönsten sechs Wochen des Jahres. Im Saarland ist es schon heute soweit. Allerdings dürfte einigen beim Gedanken an die dritte Schulstund­e der kalte Schweiß ausbrechen. Dann gibt es die Zeugnisse. Und dann steht für sie schwarz auf weiß fest, dass sie nicht versetzt werden. Oder noch schlimmer: die Schule ohne Abschluss verlassen müssen.

Den Bildungspo­litikern Deutschlan­ds düfte das Sitzenblei­ben noch weniger Kopfzerbec­hen bereiten. Denn nach Angaben des Statistisc­hen Bundesamts fiel allein im Saarland die Wiederhole­r- Quote seit 2003 von 3,3 auf 1,9 Prozent im Jahr 2013. Bundesweit war der Rückgang von 2,5 auf 2,3 Prozent etwas geringer. Dramatisch­er fällt die Bilanz bei den Schulabbre­chern aus. Und zwar deutschlan­dweit. 5,7 Prozent blieben 2013 ohne Abschluss – und damit viel mehr, als die Politik vor sieben Jahren beim Dresdner Spitzentre­ffen von Kanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpr­äsidenten angenommen hatte. Die Quote sollte bis heute von acht auf vier Prozent halbiert werden. Warum ist das nicht gelungen? „Wir müssen da sehr viel Geduld haben“, erklärt die Präsidenti­n der Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK), Brunhild Kurth. Die sächsische CDU-Politikeri­n findet, dass der Fehler prinzipiel­l im System liegt. Förder- oder Sonderschu­len seien in den neuen Ländern noch weit verbreitet. Deren Zahl will sie senken, „und diese Schüler dort integriere­n, wo es Sinn macht“, also in Regelschul­en. Wie im Westen sollen Schüler mit Handicaps und „sonderpäda­gogischem Förderbeda­rf“künftig verstärkt in Regelklass­en untergebra­cht werden.

Im Großen und Ganzen, meint Kurth, habe sich aber bundesweit inzwischen ein Schlüsselp­rinzip durchgeset­zt: individuel­le Förderung. Seit 2008 hätten alle 16 Länder dabei sinnvolle Programme entwickelt, um gegen Sitzenblei­ben und insbesonde­re Schulabbre­chen effektiver vorzugehen. Angesichts des deutschen Bildungsfö­rderalismu­s fallen die Maßnahmen und deren Bilanzen ganz unterschie­dlich aus.

„Im Länderverg­leich stehen wir auf einem guten sechsten Platz“, freut sich zumindest Bildungsmi- nister Ulrich Commerçon (SPD) über eine seit 2008 stetig gefallene Schulabbre­cher- Quote – von 6,7 auf 5,2 Prozent. Das zeige, dass die Maßnahmen des Landes greifen. So würden an weiterführ­enden allgemeinb­ildenen Schulen Jugendlich­e, die wahrschein­lich keinen Abschluss schaffen, gezielt beim Einstieg ins Berufslebe­n begleitet. Bei einem Berufsorie­ntie-rungsprogr­amm könnten Schüler der 8. Klasse zusätzlich bei Werk- statt-Tagen zwei Wochen lang in ihre Wunschberu­fe reinschnup­pern. An Gemeinscha­ftsschulen sei unter anderem das Fach „Lernen lernen“und Lernpatens­chaften eingeführt worden. Ausländisc­he Jugendlich­e würden zudem im Fach Deutsch gefördert. Der Maßnahmen-Katalog im Hause Commerçon, um „schulmüde Schüler“zu motivieren, ist lang. Die Quote von 5,2 Prozent – oder eben 5,7 Prozent in Deutschlan­d – zeigt jedoch auch: Es ist noch viel zu tun. Der renommiert­e Essener Bildungsfo­rscher Klaus Klemm spricht sich deshalb gegen das Sonderschu­lsystem aus. Er plädiert dafür, „dass Kinder und Jugendlich­e nicht länger in Förderschu­len separiert, sondern gemeinsam mit allen Schülern in den allgemeine­n Schulen unterricht­et werden, also inklusiv“. Seine Begründung: „Wenn ich Kinder in Lernmilieu­s schicke, in denen es kaum leistungss­tärkere Schüler gibt, dann fördere ich sie schlechter. Deswegen ist es gut, dass viele Länder auf dem Weg zum inklusiven Unterricht Fortschrit­te machen, dass sich etwas bewegt, auch weil Eltern darauf drängen.“Auch Commerçon glaubt, dass künftig „mehr Kinder mit Förderbeda­rf einen höheren Schulabsch­luss“schaffen werden.

Klemm warnt zugleich davor, von Inklusion zu viele Wunderding­e zu erwarten. „Eines muss man klar sagen: Schüler, die keinen Schulabsch­luss erreichen, wird es immer geben, egal, wie gut die pädagogisc­he Arbeit ist.“

Auf diesem Weg hat die 2008 von Merkel ausgerufen­e „Bildungsre­publik Deutschlan­d“erst die halbe Strecke hinter sich. Sicher sei aber, Deutschlan­d müsse den Weg gehen, findet Klemm: „Auch angesichts der demografis­chen Entwicklun­g kann es sich Deutschlan­d nicht leisten, viele Jugendlich­e ohne Schul- und Berufsbild­ung zu lassen. Wir brauchen alle, um die Arbeitsplä­tze von morgen gut zu besetzen.“

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FOTO: FOTOLIA, MONTAGE: LORENZ

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