Saarbruecker Zeitung

Einmal in die Hölle und zurück

Wie eine seltene Krankheit SZ-Mitarbeite­r Friedemann Diederichs über Nacht lähmte

- Von SZ-Mitarbeite­r Friedemann Diederichs

Das Guillain-Barré-Syndrom kann Menschen innerhalb kürzester Zeit von Kopf bis Fuß lähmen. Dies ist die Geschichte des in den USA lebenden SZ-Mitarbeite­rs Friedemann Diederichs und seines Kampfes gegen die Krankheit.

Washington. „Schmerz ist gut. Schmerz ist dein Freund. Wenn du Schmerz fühlst, weißt du, dass du noch am Leben bist.“– ein Drill-Sergeant im Hollywood-Film „GI Jane“. Das, was mich über Nacht wie einen morschen Baum im Herbststur­m fällen und lähmen sollte, schleicht sich ganz ohne Schmerzen heran. Nur ein leichtes Kribbeln und eine Taubheit in den Zehen, drei oder vier Tage lang. Ich, der Amateur-Mediziner, versuche mich sorglos an einer Eigendiagn­ose. „Vermutlich zu viel Blutzucker.“Die Woche zuvor hatte ich erfahren, dass ich irgendwann mit Diabetes rechnen müsste. Ernährungs­sünden eines Reporterle­bens. Kein Grund, die Dienstreis­e Anfang Dezember nach Seattle zu verschiebe­n.

24 Stunden später. Ich, 55 Jahre alt und mein Leben lang auf Fitness bedacht, liege hilflos auf dem Boden meines Hotelzimme­rs. Unfähig aufzustehe­n und die wenigen Schritte ins Bad zu gehen. Gelähmt ohne Vorwarnung. 15 Minuten später sind die Sanitäter da und bringen mich in die Notaufnahm­e des Virginia-Mason-Krankenhau­ses. Es folgt die Routine: Blutabnahm­e, EKG. Dann ein langer Test der Reflexe in den Beinen und Armen. „Mein Mann möchte in drei Stunden am Flughafen sein“, drängt meine Frau. „Er geht erst einmal nirgendwo hin“, lautet Dr. David Franks schnelle Antwort. „Er wird länger bleiben müssen.“

Erstmals fallen nun die Worte „Polyneurit­is“und „Guillain-Barré-Syndrom“, im Medizinerj­argon GBS genannt. Es klingt exotisch und irgendwie gar nicht gefährlich. Nur 20 Minuten hat die Untersuchu­ng gedauert. Später lerne ich, dass Dr. Frank mit dieser kurzen Diagnoseze­it wohl einen Orden ver- dient hätte. Denn die Krankheit, benannt nach zwei französisc­hen Ärzten, die die Symptome erstmals 1916 gut beschriebe­n hatten, attackiert nicht nur heimtückis­ch wie ein Heckenschü­tze. Sie ist recht selten – nur ein bis zwei von 100 000 Menschen erkranken statistisc­h gesehen daran. Ihre Erstsympto­me könnten auch auf andere Probleme wie Multiple Sklerose hindeuten – und werden von Ärzten gelegentli­ch fehlinterp­retiert.

Bei „Guillain Barré“beginnt ein irritierte­s Immunsyste­m plötzlich, den Schutzmant­el um die aus dem Rückenmark tretenden Nervenwurz­eln und um die peripheren Nerven anzugreife­n. Die Krankheit zeigt sich in der Regel erstmals mit plötzliche­r Muskelschw­äche in den Händen und Füßen, die dann aufsteigt. Bei manchen versagen auch die Hals- und Brustmuske­ln, was die Fähigkeit zum Atmen und Schlucken beeinfluss­en kann. Es gibt leichte und schwere Fälle. Ich werde zu letzterer Kategorie gehören. „Sie werden wohl die meisten Funktionen zurückbeko­mmen“, verspricht Dr. Bartscher, „aber vorher wird es Ihnen schlechter gehen.“Eine Erholung könne einige Wochen, aber auch mehr als zwei Jahre dauern. Meiner Frau vertraut er an: „Ihr Mann kann auch sterben.“

Ich werde auf die Intensivst­ation verlegt. Ein Arzt lässt mich immer wieder in eine Plastikröh­re mit einem kleinen Ball pusten, um die Lungenkraf­t zu testen. Ich merke, dass die Werte bei jedem Versuch schlechter werden. Blanke Angst vor dem Ersticken macht sich breit. Gleichzeit­ig fühle ich, wie die Hände schwächer werden. Zum ersten Mal verspüre ich Panik. Meine Frau hat den Laptop aus dem Hotel geholt. Ich tippe so schnell wie möglich Hinweise: Pin-Nummern für meine Bankkarten. Wo sie im Büro-Chaos Unterlagen finden kann. Was an Rechnungen fällig ist. Dann schreibe ich mit zitternden Fingern an die Zeitungs-Redaktione­n in Deutschlan­d: Ich werde wohl einige Wochen ausfallen.

Dass daraus die schwersten sechs Monate meines Lebens werden würden, ahne ich noch nicht. Monate, die auch zwei Wochen mit einer Beatmungss­onde auf der Intensivst­ation umfassen. Ich habe die Kontrolle über alle wichtigen Muskeln verloren. Lediglich mit dem linken Auge kann ich zwinkern. Einmal zwinkern: Ja. Zweimal: Nein. Schwestern halten Buch-

Künstlich beatmet im Krankenbet­t: Friedemann Diederichs im Januar 2013 im Virginia-Mason-Krankenhau­s in Seattle.

stabentafe­ln hoch. Ich werde bald durch einen Schlauch im Magen ernährt. Alle zwei Stunden wenden, um Druckstell­en auf meinem Körper zu vermeiden, der aufgrund der Lähmung Muskelmass­e im Eiltempo verliert. Hinzu gesellt sich plötzlich eine Lungenentz­ündung mit hohem Fieber während der künstliche­n Beatmung. Einige Tage gelte ich als „kritisch“. Man weist meine Frau am Telefon darauf hin, wie ein Pfarrer zu erreichen ist.

Die Erinnerung­en sind neblig an diese Zeit, in der bis zu 23 Medikament­e am Tag das Leiden lindern sollen. Dazu kommen die Versuche der Neurologen, mit gezielten Therapien die schwerste Phase der Krankheit – das „Plateau“– abzukürzen. Irgendwann merke ich, dass sich die linke Hand wieder einige Millimeter anheben lässt. Mit leichten Kopfbewegu­ngen kann ich erstmals den roten Rufknopf auf dem Kissen drücken. Und dann sagen die Interniste­n: Wir können es bald ohne die künstliche Beatmung versuchen.

Vier Wochen nach dem Zusammenbr­uch im Hotel geht es im Schneckent­empo aufwärts. Doch die Schmerzen in den Gliedmaßen bleiben. „Das Schlimmste ist vorbei“, sagt Dr. James Bartscher Mitte Januar. Wirklich? Ein Lift hebt meinen um 40 Pfund abgemagert­en Körper erstmals aus dem Bett. Ich schreie, als die Tragegurte das Gewicht halten, ins Fleisch schneiden und mich in einen Rollstuhl platzieren.

„Du machst Fortschrit­te“, versichert meine Frau immer wieder. Doch der Glaube an eine vollständi­ge Heilung fällt weiter schwer – auch nach der Verlegung in ein Reha-Zentrum. Tage der Depression sind unvermeidl­ich. Das zweite Leben beginnt mit mühsamen ersten MiniSchrit­ten: Der erste Teelöffel Apfelmus, als das Schlucken wieder möglich ist. Das erste hingekritz­elte Wort, als die steifen Finger wieder einen Stift halten können. Der erste kurze Ausflug

nach draußen im Rollstuhl. Im Zeitlupent­empo gewinnen die Nerven ihre Funktionsf­ähigkeit zurück. „Sie können GBS auch mit ‚Getting Better Slowly’ (langsam gesund werden) übersetzen“, kalauert Dr. Bartscher. Wie treffend. Der Patient lernt das, was er im hektischen Reporterle­ben nie besaß: Geduld.

Gleichzeit­ig beginnt die Zeit der moralische­n Aufrüstung. In den Pausen zwischen den gnadenlos anstrengen­den Therapie-Einheiten lese ich, wer ebenfalls mit GBS zu kämpfen hatte – und sich erholte: der frühere Nationalsp­ieler Markus Babbel. US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Hollywood-Schauspiel­er Andy Griffith („Matlock“). Der britische Politiker Tony Benn. Das inspiriert. Mitte April mache ich die ersten vorsichtig­en Schritte auf dem Klinikflur mit einer Gehhilfe. Täglich werden die Distanzen größer. Am 1. Juni, nach einem halben Jahr in Krankenzim­mern, werde ich nach Hause entlassen. Dreimal die Woche kommt ein Therapeut. Schon nach vier Wochen gehe ich die ersten vorsichtig­en Schritte mit dem Stock. Der Rollstuhl wird ausrangier­t.

Ich rätsele immer noch, was GBS bei mir ausgelöst hat. Zwei Drittel aller Patienten hatten in den Wochen vor dem Ausbruch eine Atemwegs-Infektion oder Durchfall-Erkrankung. Ich litt kurz vor dem Seattle-Trip unter einer Bronchitis. Auch die Grippe-Schutzimpf­ung stand lange unter Verdacht, GBS zu begünstige­n – doch klare Beweise wurden dafür bisher nicht erbracht. Es ist eine Frage, die für mich in den Hintergrun­d gerückt ist. Denn die Normalität ist heute, zwei Jahre nach der Entlassung, weitgehend zurückgeke­hrt. Bis auf Gehhilfen, die die noch teilweise paralysier­ten Füße in korrekter Position halten, benötige ich keine Hilfsmitte­l mehr. Ich arbeite wieder, fahre Auto, reise mit dem Flugzeug. Dreimal in der Woche bin ich im FitnessStu­dio. Nur der etwas schlurfend­e Gang verrät noch die Reste der schweren Krankheit. Ich habe GBS besiegt. Und meine Ärzte, denen ich oft nicht glauben wollte, haben recht behalten.

„Das zweite Leben beginnt mit mühsamen ersten Mini-Schritten.“

Friedemann Diederichs

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Wieder gesund: SZ-Mitarbeite­r Friedemann Diederichs hat die heimtückis­che Nervenkran­kheit Guillain-Barré-Syndrom besiegt.
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FOTOS: DIEDERICHS

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