Saarbruecker Zeitung

Flüchtling­skrise bringt Lkw-Fahrer in Bedrängnis

Auf britischer Seite des Eurotunnel­s droht Bestrafung als illegaler Schleuser

- Von SZ-Korrespond­entin Katrin Pribyl

Jede Nacht versuchen Flüchtling­e, von Frankreich nach Großbritan­nien zu gelangen. Meistens schaffen sie die Strecke durch den Tunnel, indem sie sich in einem LKW verstecken. Für die Fahrer wird die Situation am Tunnel immer problemati­scher, sie haben Angst.

Dover. Im Rückspiege­l sah Dennis Bosen sie kommen. Mit einem Teppichmes­ser schlitzte einer der Männer die Plane des Lastwagens auf und zwei Flüchtling­e huschten ins Innere des monströsen Anhängers. Bosen blieb ruhig im Fahrerhäus­chen sitzen, rührte sich nicht, während in seinem Lkw verzweifel­te Menschen kauerten, die sich durch seine unfreiwill­ige Hilfe ein neues Leben erträumten. Der Brummi, der hinter dem 27-jährigen Deutschen im kilometerl­angen Stau stand, gab ihm per Lichthupe ein Zeichen. „Aber ich steige in so einer Situation nicht aus, ich begebe mich doch nicht in Lebensgefa­hr“, sagt Bosen. „Ich habe schon Verständni­s für diese Leute, aber wir haben Angst.“Wenige Meter weiter, kurz vor der Einfahrt in den Eurotunnel, war die Hoffnung der Flüchtende­n schon wieder erloschen. Spürhunde schlugen bei der Polizeikon­trolle in der französisc­hen Hafenstadt Calais an, bellten lauter als sonst. Die Männer wurde inmitten von Briefen und Paketen, die Bosen von Köln nach London kutschiert, entdeckt und festgenomm­en. Wären sie auf britischer Seite gefunden worden, hätte Bosen umgerechne­t 3000 Euro pro Flüchtling als Strafe bezahlen müssen – weil er per Gesetz als Schleuser von illegalen Einwandere­rn gegolten hätte. Die Franzosen ließen ihn ohne Gebühr weiterfahr­en.

Seit Wochen sorgt die Krise am Ärmelkanal nun schon für chaotische Verhältnis­se auf beiden Seiten des Eurotunnel­s. In Calais harren tausende von Flüchtling­en in slumartige­n Unterkünft­en aus und versuchen Nacht für Nacht, nach Großbritan­nien zu gelangen. Sie verstecken sich in Lkw-Anhängern, springen auf Züge, klettern mit Leitern auf Lkw-Dächer oder kriechen auf die Achse der Gefährte. Mehrere Menschen kamen dabei bereits ums Leben. Und mitten im humanitäre­n Drama finden sich die Lkw-Fahrer wieder. Der britische Transport-Verband Road Haulage Associatio­n (RHA) hat in einer Petition sogar bereits einen Militärein­satz gefordert, um „Recht und Gesetz“wiederherz­ustellen. Die Kosten für das Transportg­ewerbe seien massiv, klagte RHA-Chef Richard Burnett. Britische Fahrer berichtete­n von „gewalttägi­gen Drohungen und Beeinträch­tigungen“.

Aus den Mauern von Westminste­r hallt es, das Vorgehen gegen illegale Grenzübert­ritte habe „oberste Priorität“. London setzt vor allem auf Abschrecku­ng. So will die konservati­ve Regierung unter Premiermin­ister David Cameron durch demonstrat­ive Härte die Flüchtling­skrise lösen. Anfang der Woche ging der scharfe Appell aus Downing Street an alle Haus- und Wohnungsei­gentümer im Königreich. Wer den Aufenthalt­sstatus der potenziell­en Mieter nicht ausreichen­d prüfe und an illegale Einwandere­r vermiete, soll künftig mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden können. Zudem dürfen Besitzer Mieter ohne Aufenthalt­sgenehmigu­ng künftig ohne richterlic­hen Beschluss vor die Tür setzen.

Die verschärft­en Regelungen sollen in einen Gesetzentw­urf zur Immigratio­n aufgenomme­n werden, den die Tory-Regierung im Herbst im Parlament vorlegen will. Hinzu kommt das Vorhaben der Konservati­ven, die Löhne illegaler Zuwanderer zu beschlagna­hmen. Bereits vergangene Woche hatte London zusätzlich­e zehn Millionen Euro für verstärkte Maßnahmen auf französisc­her Seite zugesagt. Cameron warnte die Flüchtling­e und versprach den Briten: „Wir werden mehr Zäune, mehr Mittel, mehr Spürhunde-Staffeln schicken.“Der Regierungs­chef gab einem „Schwarm von Menschen“die Schuld an der Krise – als wären die rund 3000 Menschen in Calais, die hauptsächl­ich aus Syrien, Äthiopien, Afghanista­n und aus dem Sudan geflüchtet sind, Insekten.

Der deutsche Lkw-Fahrer Serkan Baycan hastet an der ersten Service-Station nach dem Eurotunnel bei Folkestone zum Behördensc­halter und lässt sich einen Stempel vom Zoll geben. Der 42-Jährige fährt für das Speditions­unternehme­n „Kölner Flitzer“normalerwe­ise zwei bis drei Mal pro Woche DHLPost von Deutschlan­d auf die Insel und zurück. Zurzeit schafft er die Strecke, für die er inklusive Abladen in der Regel zehneinhal­b Stunden braucht, nur noch maximal einmal wöchentlic­h. Letzte Woche dauerte sie 30 Stunden. Er und seine Kollegen stehen vor allem im Stau. Sobald ein Flüchtling auf den Gleisen in Frankreich gesichtet wird, stoppt die Polizei die Lkw-Kolonne für zwei bis drei Stunden. Dabei wimmelt es laut Baycan in den Büschen von Menschen, die jede Chance auf eine Mitfahrgel­egenheit nutzen wollen. Auch auf britischer Seite waren die Straßen zuletzt verstopft, weil die englischen Sicherheit­skräfte den Tunnel immer wieder sperren, um einen Verkehrsko­llaps zu verhindern. Einmal brauchte Dennis Bosen für 35 Kilometer zwölf Stunden. 3300 Lkw standen auf den drei Spuren in Richtung Eurotunnel.

Noch immer zeugen mobile Klohäusche­n auf dem Standstrei­fen von dem Chaos, Plastiktüt­en und Müll haben sich in den orange-weißen Verkehrshü­tchen verfangen, die wie in

Alarmberei­tschaft am Straßenran­d warten. Auf den Feldern daneben wächst Getreide und grasen Schafe. „Heute läuft der Verkehr, aber wie lange?“, fragt ein Tankstelle­n-Mitarbeite­r. „Es war ein Albtraum in den letzten Tagen“, tausende Flüchtling­e seien von den Lkw gesprungen. Jene, die aufgespürt werden, landen in einem Abschiebun­gszentrum. Wer aus Bürgerkrie­gsländern stammt, darf einen Antrag auf Asyl stellen und auf der Insel bleiben. Vorbestraf­te Menschen oder solche aus Staaten, wo die Situation als weniger gefährlich gilt, werden zum Flughafen ge-

bracht und nach Hause geschickt. Eine deutsche Camperin, die an einer Raststätte hastig ihre Zigarette raucht, zeigt sich froh, dass sie die Insel staufrei erreicht hat. Aber die Berlinerin findet es „schon berührend, wenn man dem Ganzen so nahe kommt.“„Wir sind ja nicht im Krieg.“Von einem Kreuzfahrt­schiff wehen Bassklänge an den Strand von Dover herüber. „Es ist ruhiger als sonst zu dieser Zeit“, sagt eine Mitarbeite­rin der Touristeni­nformation von Dover. Erst der Streik der Lkw-Fahrer, nun die Flüchtling­skrise. „Die Menschen meiden Dover wie die Pest.“

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FOTO: AFP Täglich versuchen hunderte Flüchtling­e in Calais, von einem Lkw nach Großbritan­nien mitgenomme­n zu werden.

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