Saarbruecker Zeitung

Die dramatisch­e Flucht einer syrischen Familie ins Saarland

Auf der Fahrt über das Mittelmeer ertrinkt der zweijährig­e Ahmet Kiki – Seine Familie findet im Saarland ein neues Zuhause

- Von SZ-Mitarbeite­rin Monika Jungfleisc­h

Mit vorgehalte­ner Waffe zwingen Schlepper die Familie Kiki, die aus Syrien fliehen will, auf ein Schlauchbo­ot. Es kentert auf dem Mittelmeer, der kleine Ahmet ertrinkt. Seine Eltern und Schwestern leben heute in Holz.

Holz. Die Schreie seines Kindes wird er nie vergessen. Jede Nacht schrecken sie ihn aus dem Schlaf hoch. „Warum konnte ich meinen kleinen Sohn nicht retten?“, fragt sich Mohin Eddin Kiki immer wieder. Quälende Fragen, keine Antworten, nur Entschuldi­gungen. Er hat seine Frau Hammoud und seine beiden Töchter Leen (8) und Joudi (5) aus dem sinkenden Boot gerettet. Sein Sohn Ahmet (2) glitt ihm durch die Finger, er fand ihn in den Wellen nicht mehr. Viel zu spät konnte er seinen Arm greifen, zog ihn aus dem Wasser. Da war der Junge schon tot. Gestorben am 18. Juli 2014 vor der Küste Italiens. Kurz vor der Rettung durch ein dänisches Schiff.

Doch der Reihe nach: Familie Kiki lebt in Damaskus. Vater Mohin Eddin (44) ist Jurist, arbeitet beim Militär. Mutter Hammoud (39) ist Rechtsanwä­ltin. Zusammen mit ihren drei Kindern leben sie in einem schicken Haus in der syrischen Hauptstadt, sie führen ein komfortabl­es Leben, die große Tochter geht schon zur Schule. Als die Bomben immer näher kommen, kriecht die Angst vor dem Krieg Stück für Stück in die Herzen und Köpfe der Familie. „Wir konnten nicht mehr schlafen, ständig hörten wir, wie Raketen ganz in unserer Nähe einschluge­n. Wir fürchteten um unser Leben“, erzählt Mohin Eddin. „Wir hatten Angst vor Assads Truppen und auch Angst vor den Rebellen.“

Die Familie beschließt, ihre Heimat zu verlassen und nach Schweden zu Mohin Eddins Schwester zu fliehen. Mit dem eigenen Auto gelangen sie problemlos bis nach Beirut, mit dem Flugzeug nach Algerien, in Bussen, Lastwagen und zu Fuß geht es nach Libyen. „Dort wurden wir wie Hunde in einen Zwinger gesperrt. Hätten wir geahnt, wie unsere Flucht verlaufen würde, wir wären nie geflohen. Wir mussten auf dem nackten Boden schlafen, es gab kaum Wasser, wenig zu essen. Manchmal dachte ich, es wäre besser gewesen, wir wären in Syrien geblieben und mit unserem Haus in die Luft geflogen.“Nach einigen Tagen bringen Schlepper die Fa- milie an einen geheimen Ort, an dem viele Flüchtling­e auf ein Schiff nach Europa warten. Sie zwingen die Familie auf ein Schlauchbo­ot. „Eine wahre Höllenfahr­t“, erinnert sich Mohin Eddin. „Erwartet hatten wir ein hochseetau­gliches Schiff, so war es uns versproche­n worden. Doch dann sollten wir in dieses Schlauchbo­ot steigen. Wir zögerten, doch die Schlepper machten Druck. Sie standen mit Gewehren hinter uns. Einsteigen oder erschossen werden, wir hatten keine Wahl.“Außer ihm kann keiner aus seiner Familie schwimmen. Als das Boot kentert, kann er nur seine Frau und seine beiden Töchter retten. Seinen toten Sohn zieht er mit letzter Kraft aus dem Wasser, hält ihn in den Armen, bis das dänische Schiff die Flüchtling­e in Messina an Land bringt. Mit dem Sohn von Familie Kiki sterben 31 Frauen, Männer und Kinder in dieser Nacht, alleine von diesem Boot.

Die Aufnahme in Italien erlebt Familie Kiki als sehr herzlich. „Die Italiener haben sich sofort um uns gekümmert, haben sogar dafür gesorgt, dass unser Sohn beerdigt werden konnte. Er liegt nun auf einem christlich­en Friedhof, wurde von einem christlich­en Pfarrer bestattet, obwohl er Moslem ist. Viele Einwohner von Messina nahmen an der Beerdigung teil.“Die Bilder, die Mohin Eddin von der Beerdigung zeigt, gehen un- ter die Haut. Ein weißer Sarg mit roten Rosen, viele Trauergäst­e, die in dieser schweren Stunde der syrischen Familie beistehen, ihr Mitgefühl ausdrücken. „In diesem Moment war es unwichtig, welche Religion wir haben.“Eine Handvoll Erde, in der ihr Sohn bestattet wurde, trägt Mutter Hammoud immer bei sich. Manchmal holt sie das kleine Plastiktüt­chen raus, riecht daran und spürt ihr Kind ganz nah.

Nur wenige Tage nach der Beerdigung bricht Familie Kiki Richtung Schweden auf. Die italienisc­hen Behörden lassen sie ziehen. „Alle wussten, dass wir Flüchtling­e waren, dass wir in Italien zum ersten Mal europäisch­en Boden betreten haben, aber keiner hat sich uns in den Weg gestellt. Wir konnten einfach in den Zug steigen.“

Sie kommen über Österreich und Frankreich nach Deutschlan­d, stranden in München und werden schließlic­h in die Landesaufn­ahmestelle in Lebach gebracht. Nach 16 Tagen auf der Flucht stellen sie ihren Asylantrag. „Die Zeit in Lebach war schlimm, wir hatten nicht das Gefühl, willkommen zu sein“, sagt Mohin Eddin. Als besonders grausam und gefühllos empfindet er die Situation, als er seine Papiere zeigen soll und ein Mann den Ausweis seines Sohnes in den Mülleimer wirft mit dem Satz: „Was sollen wir mit diesem Ausweis, der ist doch tot.“

55 Tage leben sie in dem Auffanglag­er. Dem Asylantrag der Familie wird stattgegeb­en. Im November 2014 beziehen sie eine Wohnung in Holz. In dem beschaulic­hen Ortsteil von Heusweiler werden die ersten schmerzhaf­ten Erfahrunge­n in Deutschlan­d durch viele hilfreiche und herzliche Gesten in den Hintergrun­d gedrängt. „Die Gemeindeve­rwaltung, die Nachbarsch­aft, Schule, Kindergart­en, sie alle geben uns das Ge- fühl, dass wir hier als Menschen gesehen werden und nicht nur als Flüchtling­e.“Schon wenige Tage, nachdem sie in Holz angekommen sind, steht Tochter Leen in der Adventsauf­führung der Holzer Grundschul­e auf der Bühne. Tochter Joudi geht jeden Morgen mit einem Lächeln in den Kindergart­en, im September wird sie eingeschul­t.

„Wir haben unser Kind auf der Flucht verloren, wir haben alles aufgegeben, sind vor dem Bombenterr­or in unserer Heimat geflohen, wir suchen nach Frieden und Sicherheit, wollen keinem auf der Tasche liegen“, betont Mohin Eddin immer wieder. „Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als Deutsch zu lernen, eine Arbeit zu finden und unseren Kindern in Frieden und Freiheit beim Aufwachsen beizustehe­n.“

Ihre Zukunft plant Familie Kiki nun in Deutschlan­d. Ob ihre Studienabs­chlüsse aus Syrien anerkannt werden, ist ungewiss. Eine Weiterreis­e nach Schweden, zu seiner Schwester, schließt Mohin Eddin momentan aus. „Wir fühlen uns wohl in Holz, unsere beiden Mädchen fangen an, sich hier einzuleben. Sie haben schon die ersten Brocken Deutsch gelernt, haben zarte Freundscha­ften geknüpft. Meine Schwester will uns im August besuchen, doch mit ihr nach Schweden zu gehen und nochmal neu anzufangen, dazu fehlt uns momentan die Kraft.“

Grund hierfür ist ein weiterer Schicksals­schlag, der die Familie vor wenigen Wochen ereilte. Das am 11. Juli geborene Kind kam mit Downsyndro­m und drei Herzfehler­n auf die Welt. Mutter Hammoud ist völlig verzweifel­t. Auch Mohin Eddin kann es nicht fassen. All ihre Hoffnung hatte das Ehepaar auf die neue Schwangers­chaft gesetzt. Hatten geglaubt, das Baby könnte ihren Schmerz über den verlorenen Sohn mildern. Nun hadern sie mit dem Schicksal, bangen erneut um das Leben ihres Kindes.

Die Erinnerung an ihren verstorben­en Sohn halten sie indessen in Ehren. In ihrem Wohnzimmer hängt ein großes Porträtfot­o von dem zweieinhal­bjährigen Ahmet. Freunde aus Syrien haben der Familie mittlerwei­le Fotos und kleine Videos von ihrer Heimat zugemailt. Mit viel Wehmut im Blick zeigt Vater Kiki einen Film, aufgenomme­n einen Tag vor der Flucht aus Damaskus. Söhnchen Ahmet sitzt auf einem Friseurstu­hl, lässt sich die Haare schneiden. Man spürt die Vorfreude des Jungen, dem Bombenhage­l zu entfliehen, gleichzeit­ig sieht man auch die Sorgenfalt­en im Gesicht des Vaters.

Im Oktober wird in Messina übrigens ein Flüchtling­slager eingeweiht. Die italienisc­he Gemeinde hat viel Geld dafür in die Hand genommen, den Flüchtling­en eine würdevolle Unterkunft anzubieten. Die Unterkunft wird den Namen „Ahmet“tragen.

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FOTO: IMAGO Der Bürgerkrie­g in Syrien tobt weiter. Immer mehr Wohnvierte­l der Hauptstadt Damaskus werden durch Bombenangr­iffe verwüstet.
 ?? FOTO: JUNGFLEISC­H ?? Familienva­ter Mohin Eddin Kiki mit Tochter Joudi. Hinter ihnen ein Foto des auf der Flucht gestorbene­n Ahmet.
FOTO: JUNGFLEISC­H Familienva­ter Mohin Eddin Kiki mit Tochter Joudi. Hinter ihnen ein Foto des auf der Flucht gestorbene­n Ahmet.

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