Saarbruecker Zeitung

Die Freude kehrt zurück auf die Todes-Insel

Erstes Camp auf Utøya seit dem Attentat 2011 – Damals massakrier­te der Rechtsradi­kale Anders Breivik in Norwegen 69 Jugendlich­e

- Von dpa-Mitarbeite­rin Sigrid Harms

Vier Jahre lang gehörte Utøya den Trauernden. Nun ist die Freude auf die norwegisch­e Insel zurückgeke­hrt. Beim Sommercamp der jungen Sozialdemo­kraten geht es ausgelasse­n zu. Die Attentate spielen kaum eine Rolle.

Utøya. „Glede“, das ist das norwegisch­e Wort für Freude, und die strahlen die meisten im Jugendcamp der norwegisch­en Arbeiterpa­rtei (AUF) an diesem Freitag aus. Dass der Massenmörd­er Anders Behring Breivik am 22. Juli 2011 hier 69 Menschen kaltblütig erschoss, ist nicht vergessen. Aber besonders lebendig ist die Erinnerung auch nicht auf dieser idyllische­n Insel im Tyrifjord. „Ich bin hier, um ein tolles Sommerlage­r zu erleben und Spaß zu haben“, sagt die 21-jährige Iris Sandholt aus Troms in Nordnorweg­en. Für sie ist es das erste Mal auf Utøya. „Natürlich ist es etwas speziell, aber wir sind ja inzwischen eine neue Generation von AUFlern.“

Bunte Zelte, Lagerfeuer, politische Diskussion­en. Im September sind Kommunalwa­hlen in Norwegen und das Sommercamp der jungen Sozialdemo­kraten soll auch ein Warm-up für den Wahlkampf sein. Da geht es um „Wer wir sind“und „Was wir wollen“. Um Solidaritä­t, um Toleranz, um Offenheit. Genau das, was Anders Behring Breivik so verachtete und was er mit seinen Anschlägen treffen wollte. „Wir dürfen Breivik nicht siegen lassen“, heißt bis heute die Parole, und das bedeutet für AUF wie für die Arbeiterpa­rtei: „Wir holen uns Utøya zurück.“Utøya zu verlieren, würde bedeuten, Breivik gewinnen zu lassen.

Selbst die, die das Massaker überlebt haben und bereit sind, mit der Presse zu sprechen, weigern sich, die Emotionen hochkommen zu lassen. „Natürlich steckt diese Insel voller Erinnerung­en, gute wie schlechte, und was wir jetzt versuchen, ist, mehr gute Erinnerung­en zu schaffen“, sagt Ragnhild Kaski, die heute Generalsek­retärin der AUF ist. Sie war 21 Jahre alt, als Breivik schwer bewaffnet auf die Insel kam. Mit anderen saß sie in der Cafeteria, als ihr Kamerad Håvard Vederhus in die Tür stürmte und rief: Draußen schießt jemand, wir müssen hier raus. Die Gruppe kletterte durchs Fenster, wobei sich Ragnhild den Knöchel brach. Breivik war da nicht mehr weit entfernt. Doch Håvard hob sie auf und trug sie ins Gebüsch. „Ich hatte Glück und bin an dem Tag am Leben geblieben“, sagt die 25-Jährige heute. Håvard schaffte es nicht.

Doch ein Grund, der Insel fern zu bleiben, ist das für Ragnhild nicht. „Ich habe so unglaublic­h viele gute Erinnerung­en von der Zeit vor 2011. Ich war hier jeden Sommer seit 2007, hier habe ich meine allerbeste­n Freunde gefunden“, erzählt sie mit einem seltsamen Strahlen im Gesicht. Emilie Bersaas denkt genauso. „Utøya hat jetzt eine dunkle Seite bekommen, aber die allermeist­en Seiten in ihrer Geschichte sind hell, und die sollen jetzt leuchten“, sagt die 23-jährige stellvertr­etende AUF-Vorsitzend­e. Zurück denkt sie nicht gern: „Ich war damals auf dem Zeltplatz, als alles begann“, erzählt sie nur zögerlich. „Ich versteckte mich dann in der Schulstube, bis ich von der Polizei geholt wurde.“So kurz ist ihre Geschichte heute. Dass sie sich unter einem Bett versteckte, dass sie wusste, dass Breivik vor dem Haus stand, dass sie ihren Kopf mit den Händen schützte, weil sie dachte: „Er kann mich so oft treffen wie er will, aber nicht in den Kopf. Ich werde heute nicht sterben.“All das erzählte sie dem norwegisch­en Rundfunk kurz nach dem Anschlag. Heute schweigt sie dazu. Die einzige Emotion in ihrem strahlende­n Gesicht ist „Glede“, Freude.

Es scheint fast so, als kämpfe die Arbeiterpa­rtie darum, einen Mythos am Leben zu halten. Die Insel Utøya, die der AUF 1950 geschenkt wurde, ist das Herz der Arbeiterbe­wegung, sagt Mani Hussaini. Hier seien wichtige politische Ideen entwickelt worden. Jens Stoltenber­g, ehemaliger Ministerpr­äsident und ehemaliger Parteivors­itzender, beschrieb Utøya als einen der Orte, die die norwegisch­e Politik in den letzten 60 Jahren am meisten geprägt haben. Wohl auch deshalb hatte er bereits einen Tag nach dem Anschlag zu den Angehörige­n gesagt. „Wir holen uns Utøya zurück!“

Tore Røyneland erinnert sich noch gut an den Tag. „Als Stoltenber­g das sagte, dachte ich nur: Was kümmert mich Utøya? Ich will mein Kind zurück!“Der Vater der 18-jährigen Synne hat Probleme, sich damit zu versöh-

nen, dass Utøya wieder als Sommerlage­r genutzt wird. „Utøya ist ein Tatort, an dem eine grausame und brutale Tat verübt wurde, und ich halte es für unpassend und unwürdig, hier ein Sommerlage­r mit Spiel und politische­n Aktivitäte­n zu veranstalt­en.“Er meint, die Partei missbrauch­e Utøya für ihre politische­n Interessen.

Der Balanceakt zwischen Erinnern und nach vorne schauen ist nicht leicht. Das Mahnmal für die Opfer, ein silberner Ring, in den die Namen der Toten eingravier­t sind, ist der einzige Ort, an dem greifbar wird, was hier geschehen ist. Hier sind die Jugendlich­en tatsächlic­h still.

Nicht so, als die ehemalige Ministerpr­äsidentin Gro Harlem Brundtland auf die Bühne tritt. Sie war das Ziel von Breivik gewesen und hatte nur eine halbe Stunde vor seiner Ankunft die Insel verlassen. Brundtland ist an diesem Tag die Einzige, die von ihren Erinnerung­en an den 22. Juli erzählt. Leider ist sie kaum zu hören. Der Jubel vom Fußballpla­tz übertönt ihre Rede, da nützt auch das Mikro nichts.

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FOTO: NELSVOLD/DPA Ein Selfie mit dem Nato-Generalsek­retär: Jens Stoltenber­g posiert gut gelaunt mit Mani Hussaini, Chef der Jung-Sozialdemo­kraten, beim ersten Sommercamp auf Utøya nach dem Attentat von 2011.
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FOTO: AFP Unmittelba­r nach dem Terroransc­hlag am 22. Juli 2011 rangen Ärzte um das Leben der schwerverl­etzten Jugendlich­en.
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FOTO: DPA Ein Jahr nach dem Anschlag wird Anders Breivik verurteilt.

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