Saarbruecker Zeitung

Die Türkei versinkt im Strudel der Gewalt

Blutige Anschläge erschütter­n die Millionen-Metropole Istanbul – Auch im Osten des Landes wieder Tote bei Angriffen im Kurdengebi­et

- Von SZ-Mitarbeite­rin Susanne Güsten Von Susanne Güsten

Neun Tote innerhalb weniger Stunden: In der Türkei eskalieren Anschläge sowie Gefechte zwischen Extremiste­n und Sicherheit­skräften. Die neue Welle der Gewalt erfasst das ganze Land. Vielleicht ist das nur der Anfang.

Istanbul. Früher Morgen im Stadtteil Sultanbeyl­i im asiatische­n Teil der Metropole Istanbul: Schwer bewaffnete Polizisten an einem gepanzerte­n Fahrzeug geraten unter Beschuss und erwidern das Feuer. Mehrere Explosione­n sind zu hören, ein Hubschraub­er kreist in der Luft: Die Szenen, die von den Kameras der Nachrichte­nsender festgehalt­en werden, wirken wie Bilder aus einem Kriegsgebi­et. Und das ist Istanbul ab sofort wohl auch.

In Sultanbeyl­i hatte ein Selbstmord­attentäter in der Nacht eine Autobombe vor einer Polizeiwac­he gezündet. Die Wucht der Ex- plosion tötete den Fahrer des Sprengstof­ffahrzeugs, zerstörte das Gebäude teilweise und verletzte zehn Polizisten. Wenige Stunden später eröffneten wohl zwei Angreifer im Morgengrau­en in Sultanbeyl­i das Feuer auf die Beamten der Spurensich­erung. Polizisten wie die hinter dem gepanzerte­n Fahrzeug lieferten sich ein heftiges Gefecht mit den Tätern. Am Ende waren die beiden Angreifer und ein Polizist tot.

Fast zeitgleich mit dem Überfall auf die Spurensich­erung schießen zwei Frauen rund 20 Kilometer nördlich von Sultanbeyl­i mit Gewehren auf den stark gesicherte­n Gebäudekom­plex des amerikanis­chen Generalkon­sulats im Stadtteil Istinye auf der europäisch­en Seite der 15-Millionen-Stadt. Die beiden können zunächst fliehen, doch wird eine Frau von Polizisten angeschoss­en und festgenomm­en.

In Medienberi­chten wird sie als Kämpferin der linksextre­men Gruppe Revolution­äre Volksbefre­iungsparte­i-Front (DHKP-C) identifizi­ert. Vor zwei Jahren hatte sich ein Selbstmord­attentäter der DHKP-C in der amerikanis­chen Botschaft in Ankara in die Luft gesprengt. Ob die DHKP-C auch den Anschlag auf die Polizisten in Sultanbeyl­i verübte, steht noch nicht fest. Nach unbestätig­ten Medienberi­chten bekennt sich eine Gruppe namens Volksverte­idigungsei­nheit zum Selbstmord­anschlag auf die Polizeiwac­he. Zunächst ist unklar, ob es sich dabei nur um einen Trittbrett­fahrer handelt oder um mehr.

Nicht nur die Gewalt am Bospo-

Polizisten jagten gestern Extremiste­n durch Istanbul.

rus erschütter­t die Türkei an diesem Tag. Im südostanat­olischen Silopi tötet ein im Straßengra­ben versteckte­r Sprengsatz der PKKKurdenr­ebellen vier Polizisten in ihrem Fahrzeug. Ein paar Kilometer weiter nördlich schießt die PKK mit einer Panzerfaus­t auf einen Militärhub­schrauber und tötet einen Soldaten. In Silopi liefern sich Kurden und türkische Sicherheit­skräfte seit Tagen schwe-

MEINUNG

Nach Jahren relativer Ruhe sind Anschläge in der Türkei wieder trauriger Alltag geworden. Jetzt explodiert­e die Gewalt zum ersten Mal in der Metropole Istanbul. Das Land steht möglicherw­eise am Anfang einer Eskalation, und die Regierung betont ihre Entschloss­enheit, dem Terror mit Härte zu begegnen. Zwar muss sich jeder Staat gegen Angriffe auf Sicherheit­skräfte wehren. Doch am En- re Straßenkäm­pfe, bei denen mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Die PKK begründet die neue Gewalt mit der Haltung der türkischen Regierung im Syrien-Konflikt: Ankara unterstütz­e dort die Extremiste­n des Islamische­n Staates (IS), um eine kurdische Autonomie in Nord-Syrien zu verhindern. Der Selbstmord­anschlag eines IS-Aktivisten in Suruc am 20. Juli, bei dem 33 Menschen starben, wurde von der PKK als Beweis für die Zusammenar­beit zwischen der Türkei und dem IS gewertet. Die Kurdenrebe­llen kündigten in der Folge ihren Waffenstil­lstand mit Ankara auf und töten seitdem fast täglich Regierungs­truppen. Zuvor hatte die türkische Regierung begonnen, PKK-Stellungen anzugreife­n.

Noch einer weiteren Bedrohung sind die Türken derzeit ausgesetzt: Der IS hatte erst am Wochenende erneut mit Anschlägen in der Türkei gedroht. Die Dschihadis­ten betrachten den Staat als legitimes Ziel für Gewalttate­n, weil Ankara sich mit den USA zusammenge­tan hat: Die US-Luftwaffe darf ab sofort von türkischen Stützpunkt­en aus den IS in Syrien angreifen.

Im Fadenkreuz der linken, kurdischen und islamistis­chen Extremiste­n stehen aber nicht nur Regierungs­einrichtun­gen und Sicherheit­skräfte, sondern das ganze Land. Einige Beobachter befürchten einen ähnlichen Staatsverf­all wie im Irak. „Die Türkei irakisiert sich rasend schnell“, kommentier­te die Journalist­in Asli Aydintasba­s auf Twitter.

 ?? FOTO: KOSE/AFP ??
FOTO: KOSE/AFP

Newspapers in German

Newspapers from Germany