Die Türkei versinkt im Strudel der Gewalt
Blutige Anschläge erschüttern die Millionen-Metropole Istanbul – Auch im Osten des Landes wieder Tote bei Angriffen im Kurdengebiet
Neun Tote innerhalb weniger Stunden: In der Türkei eskalieren Anschläge sowie Gefechte zwischen Extremisten und Sicherheitskräften. Die neue Welle der Gewalt erfasst das ganze Land. Vielleicht ist das nur der Anfang.
Istanbul. Früher Morgen im Stadtteil Sultanbeyli im asiatischen Teil der Metropole Istanbul: Schwer bewaffnete Polizisten an einem gepanzerten Fahrzeug geraten unter Beschuss und erwidern das Feuer. Mehrere Explosionen sind zu hören, ein Hubschrauber kreist in der Luft: Die Szenen, die von den Kameras der Nachrichtensender festgehalten werden, wirken wie Bilder aus einem Kriegsgebiet. Und das ist Istanbul ab sofort wohl auch.
In Sultanbeyli hatte ein Selbstmordattentäter in der Nacht eine Autobombe vor einer Polizeiwache gezündet. Die Wucht der Ex- plosion tötete den Fahrer des Sprengstofffahrzeugs, zerstörte das Gebäude teilweise und verletzte zehn Polizisten. Wenige Stunden später eröffneten wohl zwei Angreifer im Morgengrauen in Sultanbeyli das Feuer auf die Beamten der Spurensicherung. Polizisten wie die hinter dem gepanzerten Fahrzeug lieferten sich ein heftiges Gefecht mit den Tätern. Am Ende waren die beiden Angreifer und ein Polizist tot.
Fast zeitgleich mit dem Überfall auf die Spurensicherung schießen zwei Frauen rund 20 Kilometer nördlich von Sultanbeyli mit Gewehren auf den stark gesicherten Gebäudekomplex des amerikanischen Generalkonsulats im Stadtteil Istinye auf der europäischen Seite der 15-Millionen-Stadt. Die beiden können zunächst fliehen, doch wird eine Frau von Polizisten angeschossen und festgenommen.
In Medienberichten wird sie als Kämpferin der linksextremen Gruppe Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) identifiziert. Vor zwei Jahren hatte sich ein Selbstmordattentäter der DHKP-C in der amerikanischen Botschaft in Ankara in die Luft gesprengt. Ob die DHKP-C auch den Anschlag auf die Polizisten in Sultanbeyli verübte, steht noch nicht fest. Nach unbestätigten Medienberichten bekennt sich eine Gruppe namens Volksverteidigungseinheit zum Selbstmordanschlag auf die Polizeiwache. Zunächst ist unklar, ob es sich dabei nur um einen Trittbrettfahrer handelt oder um mehr.
Nicht nur die Gewalt am Bospo-
Polizisten jagten gestern Extremisten durch Istanbul.
rus erschüttert die Türkei an diesem Tag. Im südostanatolischen Silopi tötet ein im Straßengraben versteckter Sprengsatz der PKKKurdenrebellen vier Polizisten in ihrem Fahrzeug. Ein paar Kilometer weiter nördlich schießt die PKK mit einer Panzerfaust auf einen Militärhubschrauber und tötet einen Soldaten. In Silopi liefern sich Kurden und türkische Sicherheitskräfte seit Tagen schwe-
MEINUNG
Nach Jahren relativer Ruhe sind Anschläge in der Türkei wieder trauriger Alltag geworden. Jetzt explodierte die Gewalt zum ersten Mal in der Metropole Istanbul. Das Land steht möglicherweise am Anfang einer Eskalation, und die Regierung betont ihre Entschlossenheit, dem Terror mit Härte zu begegnen. Zwar muss sich jeder Staat gegen Angriffe auf Sicherheitskräfte wehren. Doch am En- re Straßenkämpfe, bei denen mehrere Menschen ums Leben gekommen sind. Die PKK begründet die neue Gewalt mit der Haltung der türkischen Regierung im Syrien-Konflikt: Ankara unterstütze dort die Extremisten des Islamischen Staates (IS), um eine kurdische Autonomie in Nord-Syrien zu verhindern. Der Selbstmordanschlag eines IS-Aktivisten in Suruc am 20. Juli, bei dem 33 Menschen starben, wurde von der PKK als Beweis für die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und dem IS gewertet. Die Kurdenrebellen kündigten in der Folge ihren Waffenstillstand mit Ankara auf und töten seitdem fast täglich Regierungstruppen. Zuvor hatte die türkische Regierung begonnen, PKK-Stellungen anzugreifen.
Noch einer weiteren Bedrohung sind die Türken derzeit ausgesetzt: Der IS hatte erst am Wochenende erneut mit Anschlägen in der Türkei gedroht. Die Dschihadisten betrachten den Staat als legitimes Ziel für Gewalttaten, weil Ankara sich mit den USA zusammengetan hat: Die US-Luftwaffe darf ab sofort von türkischen Stützpunkten aus den IS in Syrien angreifen.
Im Fadenkreuz der linken, kurdischen und islamistischen Extremisten stehen aber nicht nur Regierungseinrichtungen und Sicherheitskräfte, sondern das ganze Land. Einige Beobachter befürchten einen ähnlichen Staatsverfall wie im Irak. „Die Türkei irakisiert sich rasend schnell“, kommentierte die Journalistin Asli Aydintasbas auf Twitter.