Katholiken ignorieren Sexualmoral der Kirche
Internationale Umfrage zeigt große Kluft zwischen Basis und Leitung bei Haltung zu Ehe und Familie
Katholiken lehnen den Umgang ihrer Kirche mit Sexualmoral, Ehe und Homosexualität mehrheitlich ab. Das ergab eine neue Umfrage.
Dürfen Priester heiraten? Und katholische Paare Kondome benutzen? Laut einer neuen Studie würden die meisten deutschen Katholiken diese Fragen mit „Ja“beantworten. Kirchlich heiraten finden sie aber trotzdem wichtig.
Berlin. Dass sich die katholische Kirche entgegen aller Erwartungen auch modern und fortschrittlich präsentieren kann, zeigt sie dieser Tage mit der Verwendung des Programms „Churchix“. Mit dieser Software kann man per Computer Gesichter erkennen. Das Programm wird in Kirchen eingesetzt, um zu registrieren, wer am Gottesdienst teilnimmt und wer schwänzt. Praktisch.
Gänzlich unmodern ist die Kirche allerdings in Fragen der Sexualmoral. Das findet zumindest eine überwältigende Mehrheit der Gläubigen, wie eine aktuelle Studie belegt, die drei Theologiestudenten aus Berlin und Münster gestern in Berlin vorgestellt haben. Kondome oder Pille benutzen zur Empfängnisverhütung? Das findet die Mehrheit der befragten deutschen Katholiken zum Beispiel völlig in Ordnung.
Für die Studie hatten die Initiatoren über 10 000 Katholiken aus 40 Ländern zu ihrem Familienbild befragt, rund 8000 Antworten kamen aus Deutschland. Die Studenten stellten etwa Fragen zum Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Empfängnisverhütung, Zölibat und Diakonat der Frau. Wissenschaftlich unterstützt wurden sie vom „Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften“(Gesis) und der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Münster. Repräsentativ „im technischen Sinn“sei die Umfrage allerdings nicht, hieß es.
Die Idee war entstanden, weil sich Papst Franziskus in den vergangenen Jahren mit zwei „Familienumfragen“an die Katholiken gewandt hatte, um zu erfahren, inwieweit die Lehre der Kirche und die Lebensrealität zueinander passen. Die Resonanz war aber überschaubar – was Kritiker auch mit der un-
Die Studenten Anna Roth, Sarah Delere und Tobias Roth stellten gestern die Ergebnisse ihrer Umfrage vor.
verständlichen kirchlichen Binnensprache erklärten.
Die Kirche müsse den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit anerkennen und „mit ihm aufrichtig umgehen“, erklärte die Berliner Theologiestudentin Sarah Delere, die die Studie mitentwickelt hat. So entsprächen viele Antworten mehrheitlich nicht der kirchli- chen Lehrmeinung. Demnach befürworteten 87 Prozent der deutschen Befragten die Einführung des Diakonats der Frau. 72 Prozent gaben künstlichen Verhütungsmethoden vor natürlicher Empfängnisverhütung den Vorzug. Mehr als 85 Prozent sprachen sich für die Abschaffung des Pflichtzölibats für Priester aus. Auch die Anerken- nung und Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften findet bei 70 Prozent der deutschen Katholiken Zuspruch. Bei der Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare auch kirchlich heiraten dürfen, zeigte sich dagegen „kein klares Bild“.
„Gerade im Bereich der Empfängnisverhütung wird die Kirche und ihre Lehre nicht mehr als relevante Größe wahrgenommen“, so Delere. „Dieser Zug ist abgefahren.“In anderen Lebensbereichen spiele sie laut Umfrage dagegen durchaus noch eine Rolle. So gaben mehr als 95 Prozent der deutschen Befragten an, dass ihnen eine christliche Kindererziehung wichtig sei. Mehr als 90 Prozent sagten, dass eine kirchliche Hochzeit eine große Bedeutung habe. Ein Ideal, das laut Studie sogar altersübergreifend geteilt wird und Katholiken zwischen 16 und 92 Jahren gleichermaßen gut finden.
Die Debatte, ob die kirchliche Lehre noch die Lebensrealität der Katholiken widerspiegelt, finde nicht nur in Westeuropa, sondern länder- und generationenübergreifend statt, betont Delere. So sprechen sich etwa für ein „probeweises Zusammenleben“vor der Ehe über 80 Prozent der Deutschen aus. Ein ähnliches Bild ergebe sich aber
auch in den meisten anderen Ländern, mit Ausnahme von Polen, so Delere. Die Ergebnisse der Umfrage will der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode im Oktober bei der Familiensynode im Vatikan einbringen. Da heißt es dann Farbe bekennen.