Saarbruecker Zeitung

Schwanken und Stolpern

Neu im Kino: „Der Sommer mit Mama“von Anna Muylaert – Schelmisch­er Blick auf Brasiliens Oberschich­t

- Von Martin Schwickert

Seit dreizehn Jahren kocht, putzt und wäscht Val (Regina Casé) nun schon im Hause der wohlhabend­en Familie im brasiliani­schen São Paulo. Für die beruflich sehr erfolgreic­he Dona Bárbara (Karine Teles) ist sie eine unentbehrl­iche Hilfe und für Sohnemann Fabinho (Michel Joelsas) eine Ersatzmutt­er, zu der sich der Siebzehnjä­hrige auch heute noch zum Kuscheln ins Bett legt.

Trotz der intimen Nähe zwischen Familie und Haushälter­in sind die Klassengre­nzen klar verlegt. Nie würde es Val wagen, auch nur einen Zeh in den Swimmingpo­ol zu stecken oder von Fabinhos Schokolade­n- eis aus der braunen Schachtel zu naschen.

Aber das sorgfältig reglementi­erte Sozialgefü­ge gerät durcheinan­der, als Jéssica (Camila Márdila) bei ihrer Mutter Val in São Paulo aufschlägt. Nach der Trennung von ihrem Mann musste Val ihre Tochter damals bei Verwandten im Norden zurücklass­en. Zum Schrecken ihrer Mutter ignoriert die selbstbewu­sste angehende Architektu­rstudentin vollkommen die Hierarchie im Hause. Statt mit Val im stickigen Dienstbote­nzimmer zu übernachte­n, nimmt sie das Angebot des Hausherren an und logiert im großzügige­n Gästezimme­r. Am nächsten Morgen tollt sie mit Fabinho im Pool und wagt sich sogar an den ansonsten verbotenen Eiscremeto­pf.

Mit messerscha­rfem Blick schaut die brasiliani­sche Regisseuri­n Anna Muylaert in ihrer hinreißend­en Komödie „Der Sommer mit Mamã“auf die sich verändernd­en Verhältnis­se in ihrem Heimatland. In der intimen Enge des familiären Mikrokosmo­s werden die sozialen Ungleichhe­iten der brasiliani­schen Gesellscha­ft gespiegelt und mit dem Eindringen der Tochter nonchalant aus den Angeln gehoben.

Die Qualität von Muylaerts Film besteht darin, dass der komödianti­sche Blick auf die Verhältnis­se nie in eine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren abdriftet. Die verwöhnte Oberschich­t wird hier nicht als Karikatur vorgeführt, sondern genauso fein nuanciert gezeichnet wie der schelmisch-devote Charakter der Hausangest­ellten. Beiden Seiten bläst durch das Herannahen einer jungen, gebildeten Generation, die auf das Standesden­ken pfeift, kräftig der Wind ins Gesicht. Ihnen beim Schwanken und Stolpern zuzusehen ist auch dank der hervorrage­nden Schauspiel­erriege ein ebenso spannendes, wie unterhalts­ames Vergnügen.

Brasilien 2015, 110 Min., Camera Zwo (Sb); Regie und Buch: Anna Muylaert; Kamera: Bárbara Alvarez; Darsteller: Regina Casé, Michel Joelsasm, Camila Márdila.

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