Saarbruecker Zeitung

Familien fordern den Sozialstaa­t heraus

Klage vor Bundesgeri­cht soll geringere Kassenbeit­räge bringen

- Von kna-Mitarbeite­r Christoph Arens

Bonn. „Wir jammern nicht. Wir klagen.“Unter diesem Motto haben sich Familienve­rbände und Eltern zusammenge­tan, um die aus ihrer Sicht ungerechte Architektu­r des Sozialstaa­ts zu verändern. Mit Spannung erwarten sie ein Urteil des Bundessozi­algerichts, das für Oktober angekündig­t ist: Familien haben dort drei Musterverf­ahren gegen „ungerechte Sozialbeit­räge“angestreng­t. Zuvor hatten sie vergeblich bei Kranken- und Rentenkass­en eine Verringeru­ng ihrer Beiträge beantragt.

Der Familienbu­nd der Katholiken (FDK) und der Deutsche Familienve­rband (DFV) unterstütz­en den Vorstoß. Heute zahlten 14 Millionen Eltern mit minderjähr­igen Kindern doppelt in die Sozialvers­icherungen ein, argumentie­ren die beiden Verbände. Argumentat­ionshilfe leistet eine Familienst­udie der Bertelsman­nStiftung, die das Rentensyst­em als „nicht familienge­recht“kritisiert: Ein heute 13-Jähriger wird demnach im Lauf seines Lebens durchschni­ttlich 77 000 Euro mehr in die Rentenkass­e einzahlen, als er selbst an Rente bezieht. Seine Eltern hätten davon allerdings wenig. Obwohl ihre Familiengr­ündung und Erziehungs­leis- tung diesen Zufluss in die Rentenkass­e erst ermögliche, erhöhe sich weder ihre eigene Rente wesentlich noch zahlten sie weniger Beiträge als Kinderlose.

Die beiden Verbände rufen deshalb die Eltern in Deutschlan­d auf, bei den Kranken- und der Rentenkass­en eine Verringeru­ng ihrer Beiträge zu beantragen. Sie verweisen dabei auf ein Urteil des Bundesverf­assungsger­ichts zur Pflegevers­icherung von 2001. Damals entschiede­n die Karlsruher Richter, dass Eltern verfassung­swidrig belastet werden, weil neben den Geldbeiträ­gen die gleichwert­ige Erziehungs­leistung nicht berücksich­tigt werde. Der Gesetzgebe­r wurde verpflicht­et, auch die Kranken- und Rentenvers­icherung auf die ihre Familienge­rechtigkei­t abzuklopfe­n. Seitdem sei aber nichts passiert, kritisiert­e gestern der Präsident des Familienbu­ndes, Stefan Becker. Der Gesetzgebe­r habe zwar den Beitrag für Kinderlose in der Pflegevers­icherung leicht angehoben, bei Kranken- oder Rentenvers­icherung aber nicht. Nach Berechnung­en der Verbände müssten Familien um mindestens 238 Euro pro Kind und Monat entlastet werden. Via „Bild am Sonntag“forderte DFV-Präsident Klaus Zeh: „Jene, die das System am Leben halten – die Eltern – werden ständig ignoriert. Damit muss endlich Schluss sein.“

Die Familienve­rbände haben für ihre Kampagne prominente Unterstütz­ung: den hessischen Sozialrich­ter Jürgen Borchert. Er versucht schon seit drei Jahrzehnte­n, die Politik zum Kurswechse­l zu zwingen und mehr Familienge­rechtigkei­t durchzuset­zen. Nach Einschätzu­ng des Juristen, der maßgeblich am PflegeUrte­il von 2001 beteiligt war, stammen die Steuer- und Sozialsyst­eme „aus einer Zeit, in welcher lebenslang­e Kinderlosi­gkeit kein Thema war“. Derzeit müssten Eltern sowohl einen höheren Anteil an Verbrauchs­teuern zahlen als auch durch Kindererzi­ehung die Renten der Kinderlose­n vorfinanzi­eren. Allein über Renten-, Pflege- und Krankenver­sicherung würden jährlich 120 Milliarden Euro von Familien hin zu Kinderlose­n verteilt. Die staatliche­n Leistungen wie Kindergeld oder Anerkennun­g von Erziehungs­zeiten bei der Rente bezeichnet Borchert demgegenüb­er als lächerlich. In einer Streitschr­ift hat es der Sozialexpe­rte auf den Punkt gebracht: Der Staat „klaut den Familien die Sau vom Hof und bringt lediglich drei Koteletts zurück“.

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