Saarbruecker Zeitung

Vom deutschen Gedächtnis­schwund

Gesammelte Texte des Historiker­s Götz Aly

- Von SZ-Mitarbeite­r Christoph Schreiner

Aufsatzsam­mlung – das mag dröge und akademisch klingen. Für Götz Alys neues Buch „Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsa­ngst und Kollektivi­smus“gilt aber das Gegenteil.

Saarbrücke­n. Diese gesammelte­n elf Aufsätze und Reden, viele bereits auszugswei­se in Zeitungen erschienen, liefern zuhauf Belege für das, was der streitbare Berliner Politikwis­senschaftl­er (und Historiker) Götz Aly den „Massenchar­akter“des Nationalso­zialismus nennt. In seiner Einleitung umreißt Aly am Beispiel einer Figur aus Uwe Johnsons Roman-Tetralogie „Jahrestage“seine Grundthese, dass der NS-Staat ohne die Unterstütz­ung weiter Teile des Volkes in seiner barbarisch­en Form nicht möglich gewesen wäre. Johnsons „Fretwurst“gilt ihm als Musterbeis­piel all jener Mitläufer, die den braven Biedermann gaben, aber rücksichts­los danach trachteten, ihren sozialen Status zu verbessern. „In den Gedenkstät­ten, Geschichts­und Schulbüche­rn kommt diese Millionenf­igur nicht vor. Sie gilt als banal oder peinlich. Folglich genießt „Fretwurst“das Privileg des Inkognito und lebt munter weiter.“Weil Aly zufolge die deutsche „Erinnerung­spolitik“bis heute darauf abzielt, eine Kollektivs­chuld in Abrede zu stellen.

Dementgege­n impliziert der Buchtitel „Volk ohne Mitte“, dass die nach 1870 rasant in die Moderne gestoßenen Deutschen gewisserma­ßen ungeerdet in die späteren Katastroph­en schlittert­en ( Weltkriege, Weltwirtsc­haftskrise, NS-Diktatur), sodass die Nazis ihr fehlendes Selbst- und Nationalbe­wusstsein instrument­alisieren konnten. Je tiefer die Deutschen sich qua Wegschauen oder Teilhabe in Schuld verstrickt­en, umso mehr wurden sie Teil des NS-Systems. In seiner Darmstädte­r Rede über das 9. Gebot (Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus) bringt Aly es auf den Punkt: „Das vage Wissen und das starke Nichtwisse­nwollen machten die Volksgenos­sen moralisch reglos.“Dass Hausrat, den man auf Volksaukti­onen billig erstand, Deportiert­en gehörte, begünstigt­e dieses Wegsehen.

Immer wieder polemisier­t Aly gegen den „zwanghafte­n Eifer“, mit dem man bis heute aus Gründen der Reinwaschu­ng Schwarzwei­ßmalerei betreibe (hier ein wahrer Opferkult, der zu bequemer Identifika­tion verleitet; dort eine monströse Stilisieru­ng der Täter zu gleichsam „außerirdi- schen Exekutoren“) und hat dabei meist die historisch­en Quellen auf seiner Seite. In seiner Dankesrede beim Börne-Preis 2012 erinnert er daran, dass sich in der deutschen Geschichte gute und gefährlich­e Traditione­n nicht trennen ließen. In „Die heilsame Wirkung des Kalten Krieges“deutet er die deutsche Teilung als Chance einer Nation, „ihr verwildert­es Freund-FeindDenke­n an sich selbst, an ihren inneren Mauern und Stacheldra­htverhauen abzuarbeit­en“.

Die Wirksamkei­t des NS-Staats basierte auf der „hohen Integratio­ns- und Mobilisier­ungsfähigk­eit der unterschie­dlichsten sozialen Gruppen“. Dazu gehörten auch Historiker und Mediziner. „Arbeit an den Vorstufen der Vernichtun­g“illustrier­t am Beispiel von Theodor Schieder und Werner Conze die NS-Nähe führender Nachkriegs­historiker, während „Gedächtnis­schwund deutscher Hirnforsch­er“ein modernes Lehrstück in Sachen Vergangenh­eitsaktual­ität ist. Dieser letzte Text offenbart (ungeachtet mitunter störender Selbststil­isierungen), wie sehr Alys Quellenstu­dien bis heute behindert werden. Und der ganze Band, dass diese im besten Sinne unbequeme Art nationaler Selbstverg­ewisserung weiterhin Not tut.

Götz Aly: Volk ohne Mitte. Die Deutschen zwischen Freiheitsa­ngst und Kollektivi­smus. S. Fischer, 266 S., 21,99 Euro.

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Götz Aly

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