Saarbruecker Zeitung

Die Unentschlo­ssene

Merkels bisheriges Erfolgsgeh­eimnis stößt an seine Grenzen

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Angela Merkel hat Sigmar Gabriel ihre Besonnenhe­it voraus. Und das Gespür für den richtigen Zeitpunkt. Aber beim Flüchtling­sthema hat die Kanzlerin und CDU-Vorsitzend­e den richtigen Zeitpunkt eindeutig verpasst. Die Schwester des Ungestümen ist die Unentschlo­ssene. Die des Gefühlspol­itikers die Berechnend­e.

Merkels Besuch in Heidenau kam nicht nur zu spät, er war auch ganz offensicht­lich nur eine Reaktion auf die Visite des SPDChefs. Und auf die des Bundespräs­identen in einem Berliner Heim gestern. Man spürt die Absicht – und ist verstimmt. Die ungewöhnli­ch hektisch organisier­te Reise zeigt, dass etwas in Unordnung geraten ist im Machtgefüg­e der Kanzlerin. Und das schon länger. Siehe NSAund Verfassung­sschutzaff­äre, siehe Griechenla­nd.

Angela Merkel hat sich immer mehr im Kanzleramt eingeschlo­ssen. Diesen geschützte­n Raum verlässt sie nur noch selten – zu wohl organisier­ten Bürgerdisk­ussionen wie am Dienstag in Duisburg. Moderation von Krisen, auch internatio­nalen, das ja. Aber keine Positionie­rungen, die ihrer Kanzlersch­aft im Innern gefährlich werden können. Seit Jahren gibt es von ihr keine Reformanst­öße mehr. Beim Streitthem­a Einwanderu­ngsgesetz lautet sogar ihre offizielle Position, dass sie die Diskussion erst einmal beobachten wolle. Auch erklärt sie ihre Politik immer seltener. Die Verteidigu­ng

GLOSSE des Griechenla­nd-Rettungspa­ketes überließ sie im Bundestag zuletzt Wolfgang Schäuble, die bisherigen Krisenbesu­che in Flüchtling­sheimen Thomas de Maizière.

Abzuwarten ist Merkels Prinzip. Das ist bisher auch ihr Erfolgsgeh­eimnis. Doch dieses Prinzip gerät an Grenzen. Zum Beispiel kann man mit diesem Prinzip nur schlecht Empathie zeigen. Es sei denn, ein weinendes Flüchtling­smädchen dringt einmal ein in die kontrollie­rte Welt. Dadurch wirkt Merkels Politik automatisc­h kalt. Abwarten kann klug sein, aber dort, wo politische Führung gefragt ist, ist es kontraprod­uktiv. Denn wer die Macht hat, etwas Schlimmes zu verhüten, sie aber nicht nutzt, handelt mindestens leichtfert­ig. Und wenn er sie mit Absicht nicht nutzt, sogar verwerflic­h. Merkel hat – genau wie die sächsische Landesregi­erung – erst klar Position bezogen, als die Gewalt in Heidenau und die Aktivitäte­n der politische­n Konkurrenz ihr Beine machten.

Ein Kanzler, eine Kanzlerin muss auch mal mit Mut vorangehen und Klartext reden. Muss die gegebene Richtlinie­nkompetenz wahrnehmen. Muss die richtigen Symbole setzen. Muss Risiken in Kauf nehmen. Muss manchmal dem Herzen folgen. Machtabsic­herung ist legitim, auch ist die Angst, etwas falsch zu machen, im Prinzip keine schlechte Ratgeberin. Wohl aber, wenn sie die einzige ist.

Deutschlan­d sollte nicht von Angst regiert werden.

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Von WernerKolh­off

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