Saarbruecker Zeitung

Ein Comeback mit Schmerzen

Zehn Jahre nach dem Hurrikan Katrina pulsiert das Leben wieder in New Orleans – Arme Stadtviert­el werden jedoch vernachläs­sigt

- Von SZ-Korrespond­ent Frank Herrmann

Vor zehn Jahren löste der Hurrikan Katrina eine Flutwelle aus, die New Orleans zu vier Fünfteln überschwem­mte. Während „Big Easy“wieder Tourismusr­ekorde feiert, fühlen sich die schwarzen Bewohner des Lower Ninth Ward, als störten sie nur bei der Neuerfindu­ng der Stadt.

New Orleans. Bisweilen schien es, als müsste er bis zum SanktNimme­rleinstag warten. Als hätten sich die launischen Götter der Bürokratie gegen Errol Joseph verschwore­n, um seine Rückkehr nach New Orleans zu verhindern.

Vier Jahre nach dem Hurrikan gab es einen Hoffnungss­chimmer, da konnte er seinen ersten Sieg im Papierkrie­g ver- schädigen und zugleich das Podest zu finanziere­n, zahlte der Staat Louisiana 70 000 Dollar, im Rahmen eines Programms, das sich „Road Home“nannte. Joseph packte an.

Kaum waren die Formalität­en erledigt, jedenfalls glaubte er, dass sie erledigt waren, begann er den Rohbau hochzuzieh­en, keine Ziegel, kein Beton, nur ein Holzgeripp­e, wie es in Amerika üblich ist. Er kaufte Gipskarton­platten, Fliesen, Rohre und eine Badewanne und lagerte alles in einem Schuppen. Dann holte er Inspektore­n, um sicherzuge­hen, dass alles seine Richtigkei­t hatte. Die stoppten die Arbeiten, ohne dass Joseph sagen könnte, woran es lag, denn konkret zu beanstande­n hatten sie nichts. Er solle auf ein Schreiben vom Amt warten, erst dann dürfe er weitermach­en. Monate vergingen, nichts geschah. Im feuchten Schuppen verrottete­n die Gipsplatte­n. Formulare kamen wegen Kleinigkei­ten zurück. Joseph verheddert­e sich in den Fallstrick­en der Bürokratie – bis ihn ein Beamter wissen ließ, dass alles seine Ordnung habe. Da waren seit dem Hurrikan sechs Jahre vergangen.

Irgendwann erschien Laura Paul auf der Bildfläche, die kanadische Chefin von lowernine .org, einer Spendenini­tiative, die bisher 75 Häuser im Lower Ninth hochzuzieh­en half. Die Programmie­rerin, 2005 entlassen von ihrer Start-up-Firma in Montreal, war in den Süden gefahren, um auf neue Gedanken zu kommen. Von Florida ging es nach Westen, in New Orleans blieb sie hängen. 14 Monate lang verteilte sie Essen, Decken, Zahnbürste­n und Seife. Danach übernahm sie die Leitung von lowernine.org. Sie räumte Hürden aus dem Weg, an denen Joseph gestrauche­lt war. „Ich war die weiße Lady“, sagt sie sarkastisc­h. „Mich nahmen sie ernst, Errol nicht. Soll mir keiner erzählen, das habe mit der Farbe der Haut nichts zu tun.“

Der alte Lower Ninth, so empfindet es Joseph, störte nur bei der Neuerfindu­ng von New Orleans. Dort wohnten fast ausschließ­lich Afroamerik­aner. Ihre schmalen „Shotgun Shacks“, so genannt, weil eine Kugel von vorn bis hinten durch alle Zimmer fliegen könnte, wurden über Generation­en vererbt. Bescheiden­er Wohlstand, eine ruhige Kleine-Leute-Siedlung fernab vom French Quarter, der legendären Vergnügung­smeile. Der Jazz hat tiefe Wurzeln im Lower Ninth, von hier stammte der Pianist Fats Domino. Laura Paul spricht von der Seele der Stadt. Von einer verwundete­n Seele. 19 000 Menschen lebten einst in dem Viertel, das unter dem Meeresspie­gel liegt und durch einen Kanal, den Industrial Canal, vom Stadtkern ge- trennt ist. Auf den Landkarten der Planer war es nach Katrina mit einem grünen Punkt versehen, was bedeutete, dass es nicht wieder besiedelt werden sollte. Die Pläne von damals sind Makulatur, etwa fünftausen­d Bewohner sind zurückgeke­hrt. Doch vergleicht man es mit dem Rest der Stadt, ist es ein Comeback im Schneckent­empo. New Orleans zählte vor Katrina 452 000 Einwohner, 2014 waren es 384 000. Der Tourismus boomt, als hätte es nie ein Desaster gegeben. New Orleans, „The Big Easy“mit lässigem Lebensgefü­hl, großartige­r Straßenmus­ik und französisc­hen Architektu­rperlen, gehört zu den wenigen unverwechs­elbaren Städten der USA, in einer Liga mit New York, Boston, San Francisco. Der urbane Charme zieht die Jungen an, die meisten weiß, viele hightech-affin, sodass Optimisten bereits vom Silicon Bayou sprechen.

Robert Green wohnt in der Tennessee Street, gleich neben dem Industriek­anal. Draußen hat er auf eine Tafel geschriebe­n, welche Tragödie sich für seine Familie mit dem Sturm verbindet. Zwei Namen, das gleiche Todesdatum. Joyce Hilda Green, 25 Jahre Air Force, 8.11.1931 - 29.8.2005. Shanai Green, 11.4.2002 - 29.8.2005. Green verlor sowohl seine Mutter als auch eine Enkelin in den Fluten. Dabei war er rechtzeiti­g losgefahre­n, als sich im Fernsehen die Sturmwarnu­ngen überschlug­en. Mit ihm saßen die Mutter, ein geistig behinderte­r Cousin und drei kleine Enkeltöcht­er im Auto. Nach wenigen Kilometern erlitt seine kranke Mutter eine Panikattac­ke. Sie mussten umkehren und steuerten den Superdome an, jene Arena, die als Flüchtling­slager mit skandalöse­n Zuständen für Schlagzeil­en sorgte. Der Andrang war zu groß, also fuhren sie nach Hause. Am nächsten Morgen, es war der 29. August 2005, wurde der Lower Ninth überschwem­mt.

Die Strömung war so stark, dass sie den Shotgun Shack wie Spielzeug wegspülte, bis er Halt in der Krone einer mächtigen Eiche fand. Green schlug ein Loch ins Dach, bugsierte die dreijährig­e Shanai hinauf und bückte sich, um die vierjährig­e Shaniya nach oben zu ziehen. Als er sie draußen hatte, war Shanai verschwund­en. Greens Mutter starb am selben Tag an Erschöpfun­g. Am 29. Dezember, vier Monate nach Katrina, holte Green die verweste Leiche seiner Mutter vom Dach seines Hauses. Errol Joseph konnte seine Familie damals rechtzeiti­g in Sicherheit bringen, Esther und die zwei von fünf Kindern, die damals noch bei ihnen wohnten. Die beiden Jüngsten haben inzwischen Arbeit in Kalifornie­n, die Eltern könnten zu ihnen ziehen, aber das wollen sie nicht. „Es ist unser Zuhause, Home Sweet Home“, sagt Joseph. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll.“

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FOTOS: AFP Heute herrscht wieder reger Betrieb auf den Straßen von Gulfport, vor zehn Jahren konnte man dort nur mit Trucks fahren.
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FOTOS: AFP New Orleans heute und damals: Das Foto oben zeigt ein verwaistes Haus, das Foto unten die Überflutun­g von 2005.
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