Ein Comeback mit Schmerzen
Zehn Jahre nach dem Hurrikan Katrina pulsiert das Leben wieder in New Orleans – Arme Stadtviertel werden jedoch vernachlässigt
Vor zehn Jahren löste der Hurrikan Katrina eine Flutwelle aus, die New Orleans zu vier Fünfteln überschwemmte. Während „Big Easy“wieder Tourismusrekorde feiert, fühlen sich die schwarzen Bewohner des Lower Ninth Ward, als störten sie nur bei der Neuerfindung der Stadt.
New Orleans. Bisweilen schien es, als müsste er bis zum SanktNimmerleinstag warten. Als hätten sich die launischen Götter der Bürokratie gegen Errol Joseph verschworen, um seine Rückkehr nach New Orleans zu verhindern.
Vier Jahre nach dem Hurrikan gab es einen Hoffnungsschimmer, da konnte er seinen ersten Sieg im Papierkrieg ver- schädigen und zugleich das Podest zu finanzieren, zahlte der Staat Louisiana 70 000 Dollar, im Rahmen eines Programms, das sich „Road Home“nannte. Joseph packte an.
Kaum waren die Formalitäten erledigt, jedenfalls glaubte er, dass sie erledigt waren, begann er den Rohbau hochzuziehen, keine Ziegel, kein Beton, nur ein Holzgerippe, wie es in Amerika üblich ist. Er kaufte Gipskartonplatten, Fliesen, Rohre und eine Badewanne und lagerte alles in einem Schuppen. Dann holte er Inspektoren, um sicherzugehen, dass alles seine Richtigkeit hatte. Die stoppten die Arbeiten, ohne dass Joseph sagen könnte, woran es lag, denn konkret zu beanstanden hatten sie nichts. Er solle auf ein Schreiben vom Amt warten, erst dann dürfe er weitermachen. Monate vergingen, nichts geschah. Im feuchten Schuppen verrotteten die Gipsplatten. Formulare kamen wegen Kleinigkeiten zurück. Joseph verhedderte sich in den Fallstricken der Bürokratie – bis ihn ein Beamter wissen ließ, dass alles seine Ordnung habe. Da waren seit dem Hurrikan sechs Jahre vergangen.
Irgendwann erschien Laura Paul auf der Bildfläche, die kanadische Chefin von lowernine .org, einer Spendeninitiative, die bisher 75 Häuser im Lower Ninth hochzuziehen half. Die Programmiererin, 2005 entlassen von ihrer Start-up-Firma in Montreal, war in den Süden gefahren, um auf neue Gedanken zu kommen. Von Florida ging es nach Westen, in New Orleans blieb sie hängen. 14 Monate lang verteilte sie Essen, Decken, Zahnbürsten und Seife. Danach übernahm sie die Leitung von lowernine.org. Sie räumte Hürden aus dem Weg, an denen Joseph gestrauchelt war. „Ich war die weiße Lady“, sagt sie sarkastisch. „Mich nahmen sie ernst, Errol nicht. Soll mir keiner erzählen, das habe mit der Farbe der Haut nichts zu tun.“
Der alte Lower Ninth, so empfindet es Joseph, störte nur bei der Neuerfindung von New Orleans. Dort wohnten fast ausschließlich Afroamerikaner. Ihre schmalen „Shotgun Shacks“, so genannt, weil eine Kugel von vorn bis hinten durch alle Zimmer fliegen könnte, wurden über Generationen vererbt. Bescheidener Wohlstand, eine ruhige Kleine-Leute-Siedlung fernab vom French Quarter, der legendären Vergnügungsmeile. Der Jazz hat tiefe Wurzeln im Lower Ninth, von hier stammte der Pianist Fats Domino. Laura Paul spricht von der Seele der Stadt. Von einer verwundeten Seele. 19 000 Menschen lebten einst in dem Viertel, das unter dem Meeresspiegel liegt und durch einen Kanal, den Industrial Canal, vom Stadtkern ge- trennt ist. Auf den Landkarten der Planer war es nach Katrina mit einem grünen Punkt versehen, was bedeutete, dass es nicht wieder besiedelt werden sollte. Die Pläne von damals sind Makulatur, etwa fünftausend Bewohner sind zurückgekehrt. Doch vergleicht man es mit dem Rest der Stadt, ist es ein Comeback im Schneckentempo. New Orleans zählte vor Katrina 452 000 Einwohner, 2014 waren es 384 000. Der Tourismus boomt, als hätte es nie ein Desaster gegeben. New Orleans, „The Big Easy“mit lässigem Lebensgefühl, großartiger Straßenmusik und französischen Architekturperlen, gehört zu den wenigen unverwechselbaren Städten der USA, in einer Liga mit New York, Boston, San Francisco. Der urbane Charme zieht die Jungen an, die meisten weiß, viele hightech-affin, sodass Optimisten bereits vom Silicon Bayou sprechen.
Robert Green wohnt in der Tennessee Street, gleich neben dem Industriekanal. Draußen hat er auf eine Tafel geschrieben, welche Tragödie sich für seine Familie mit dem Sturm verbindet. Zwei Namen, das gleiche Todesdatum. Joyce Hilda Green, 25 Jahre Air Force, 8.11.1931 - 29.8.2005. Shanai Green, 11.4.2002 - 29.8.2005. Green verlor sowohl seine Mutter als auch eine Enkelin in den Fluten. Dabei war er rechtzeitig losgefahren, als sich im Fernsehen die Sturmwarnungen überschlugen. Mit ihm saßen die Mutter, ein geistig behinderter Cousin und drei kleine Enkeltöchter im Auto. Nach wenigen Kilometern erlitt seine kranke Mutter eine Panikattacke. Sie mussten umkehren und steuerten den Superdome an, jene Arena, die als Flüchtlingslager mit skandalösen Zuständen für Schlagzeilen sorgte. Der Andrang war zu groß, also fuhren sie nach Hause. Am nächsten Morgen, es war der 29. August 2005, wurde der Lower Ninth überschwemmt.
Die Strömung war so stark, dass sie den Shotgun Shack wie Spielzeug wegspülte, bis er Halt in der Krone einer mächtigen Eiche fand. Green schlug ein Loch ins Dach, bugsierte die dreijährige Shanai hinauf und bückte sich, um die vierjährige Shaniya nach oben zu ziehen. Als er sie draußen hatte, war Shanai verschwunden. Greens Mutter starb am selben Tag an Erschöpfung. Am 29. Dezember, vier Monate nach Katrina, holte Green die verweste Leiche seiner Mutter vom Dach seines Hauses. Errol Joseph konnte seine Familie damals rechtzeitig in Sicherheit bringen, Esther und die zwei von fünf Kindern, die damals noch bei ihnen wohnten. Die beiden Jüngsten haben inzwischen Arbeit in Kalifornien, die Eltern könnten zu ihnen ziehen, aber das wollen sie nicht. „Es ist unser Zuhause, Home Sweet Home“, sagt Joseph. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll.“