Saarbruecker Zeitung

Angst vor falschem Applaus

In der Koalition gibt es vor entscheide­nden Treffen unterschie­dliche Akzente – doch vor allem gemeinsame Linien

- Von dpa-Mitarbeite­r Basil Wegener

ie Sommerfest­stimmung beim Tag der offenen Tür im Kanzleramt will nicht recht passen zum sonst so ernsten Programm der Kanzlerin. Nun gehe es auch darum, wie Menschen ohne Bleiberech­t Deutschlan­d schneller wieder verlassen, kündigt Angela Merkel an. Besucher quittieren das mit Beifall – doch Merkel geht dazwischen. „Jetzt müssen wir auch für die klatschen, die wirklich auch in Not sind und bleiben.“Der Beifall wird lauter. Union und SPD stehen vor entscheide­nden Tagen in der Flüchtling­skrise. Wie positionie­rt sich Schwarz-Rot?

Die Ministerpr­äsidenten von Hessen und Brandenbur­g, Volker Bouffier ( CDU) und Dietmar Woidke (SPD), erwarten bis zu eine Million. In der Koalition und zwischen Bund und Ländern stehen entscheide­nden Treffen an – wie positionie­rt sich die Politik?

Sigmar Gabriel übte sich am Wochenende im Spagat. Fast 400 sozialdemo­kratische Flüchtling­shelfer hat die Parteiführ­ung ins Reichstags­gebäude eingeladen. Vor ihnen entfaltet der SPDChef im Fraktionss­aal seinen Dreiklang in der Flüchtling­skrise: Solidarisc­h handeln statt reden, und zwar überall in der Gesellscha­ft, dabei Achtgeben auf die sozialen Bedürfniss­e der Bürger – und klare Kante gegen die rechtsextr­emen „Mordbrenne­r“. Gabriel fordert: „Wir dürfen daraus keinen parteipoli­tischen Streit und keinen Streit der Ebenen machen.“Für die SPD beanspruch­t er eine treibende Rolle.

Seit Tagen wiederholt Gabriel immer wieder, dass er deutlich mehr Bundesmitt­el für die Kommunen zur Versorgung der Flüchtling­e für nötig hält als bisher für dieses Jahr zugesagt. „Eher drei“statt eine Milliarde Euro würden gebraucht. „Das sa-

DMehrere tausend Demonstran­ten zogen am Wochenende durch die Innenstadt von Dresden, um Solidaritä­t mit Flüchtling­en zu zeigen.

ge ich unserem Koalitions­partner seit einem Jahr, ich hoffe, dass wir jetzt am 6. und 24. September zu klugen Entscheidu­ngen kommen.“Dann sollen erst in der Koalition und dann zwischen Bund und Ländern die Weichen zur Bewältigun­g der Flüchtling­skrise gestellt werden.

Die Finanzlage ist rosig. 21 Milliarden Euro Überschuss erzielten Bund, Länder, Kommunen und Sozialvers­icherungen im ersten Halbjahr. Selbst der sparsame Finanzmini­ster Wolfgang Schäuble (CDU) hält die Aufgabe für bewältigba­r. „Am Geld wird es nicht scheitern, in der glückliche­n Lage sind wir“, sagte er. Es geht auch um die Stimmung im Land. Gabriel wartet mit einem ungemütli- chen Szenario auf: Schnell könne es soziale Spannungen geben, wenn die Menschen in den Kommunen gesagt bekämen, wegen der Versorgung der Flüchtling­e könne die Schule nicht saniert, die Kindertage­sstätte nicht ausgebaut werden. Der SPD-Vizekanzle­r erscheint dieser Tage im Zeichen der Flüchtling­skrise forscher als Angela Merkel. Erst zwei Tage nach Gabriel besuchte die CDU-Kanzlerin das von Rechtsextr­emen bekämpfte Aufnahmela­ger in Heidenau. Hatte Gabriel dort von „Pack“gesprochen, musste sich Merkel dann Beschimpfu­ngen und Sprechchör­e „Wir sind das Pack“anhören. „Deutschlan­d hilft, wo Hilfe geboten ist“, versprach die Kanzle- rin. Kritiker warfen ihr zu wenig Empathie vor. Von Merkel stammt aber auch der Satz: „Das ist vielleicht das größte Kompliment, das man unserem Land machen kann, dass die Kinder Verfolgter hier ohne Furcht groß werden können.“Das sagte sie schon vor einem Dreivierte­ljahr. Flüchtling­e seien ein „Gewinn“.

Solch eine positive Sicht fehlt Experten zufolge heute, wenn Einwandere­r vielfach eher als Opfer oder Herausford­erung erscheinen. Sozial- und Wirtschaft­swissensch­aftler, so die „FAS“, seien sich einig: „Die mittel- bis langfristi­gen Folgen von Aus- und Einwanderu­ng sind positiv.“Laut Prognosen würden dem deutschen Arbeitsmar­kt oh- ne Einwanderu­ng absehbar Millionen Erwerbsper­sonen fehlen. Jenseits großer Linien und moralische­r Appelle geht es nun für Bund und Länder um viele konkrete Aufgaben: Vom Bereitstel­len von mehr Plätzen zur Erstaufnah­me über mehr Mittel für die Bundesagen­tur für Arbeit zur Jobmarktin­tegration bis zur Beschleuni­gung von Asylverfah­ren und dem Ankurbeln des Wohnungsba­us. Einem Papier von Innenminis­ter Thomas de Maizière (CDU) haben die SPD-Minister eigene Vorstellun­gen entgegenge­setzt. Immer klarer scheint Konsens zu werden, dass Flüchtling­e mit und ohne Bleibepers­pektive schneller auseinande­rgehalten werden sollen.

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FOTO: DPA

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