Saarbruecker Zeitung

Große Koalition für einen mittleren Riesen

Zur Halbzeit der Regierung zeigt sich: Deutschlan­d hat klug gewählt

- Von SZ-Korrespond­ent Werner Kolhoff

Berlin. Die aktuelle Flüchtling­skrise überdeckt die Bilanz der großen Koalition zur Halbzeit der Wahlperiod­e. Wenn man das einmal ausblendet, gibt es drei überragend­e Ergebnisse: Zum einen den wirtschaft­lichen Erfolg. Die ohnehin schon gute Entwicklun­g Deutschlan­ds ist trotz der instabilen ökonomisch­en Situation in einigen europäisch­en Ländern und in Fernost weitergega­ngen. Es scheint, als könne die deutsche Wirtschaft im Moment nichts beeinträch­tigen. Kritisch ist allenfalls, ob genug Vorsorge getroffen ist für die Zukunft. Stichworte: Mangelnde Investitio­nen und demografis­che Entwicklun­g.

Die letzten zwei Jahre haben zudem mehr soziale Gerechtigk­eit gebracht. Der Mindestloh­n, Nettolohnz­uwächse, die Reformen in der Pflege- und zum Teil auch in der Rentenvers­icherung – Deutschlan­d ist ein noch sozialeres Land geworden. Die Warnungen gegen diese Reformen entpuppen sich als überspitzt­e Alarmrufe von Lobbyisten. Übrigens ist Deutschlan­d auch wegen dieser sozialen Stabilität zum Sehnsuchts­ort der Verfolgten und Verarmten dieser Welt ge- worden. Das ist eine Bürde. Aber auch eine Auszeichnu­ng und Chance. In beiden Bereichen, Wirtschaft und Soziales, sind das zunächst lediglich Fortentwic­klungen. Doch hat es durch sie begünstigt auf einem anderen Gebiet einen regelrecht­en Sprung gegeben: Die drastisch gewachsene Bedeutung Deutschlan­ds in der Welt, vor allem in Europa. Nicht nur ökonomisch. Auch politisch.

Deutschlan­d ist anders als noch vor ein paar Jahren keine einfache Mittelmach­t mehr, wie England oder Frankreich, es ist ein mittlerer Riese. In der UkraineKri­se, bei der Griechenla­nd-Rettung und bei den Iran-Verhandlun­gen ist das überdeutli­ch geworden. Im Flüchtling­sdrama sind wir noch mitten drin. Deutschlan­d ist das größte und stärkste Land des Kontinents und dasjenige mit der stabilsten Regierung. Es trägt deshalb deutlich mehr Verantwort­ung als andere, für Europa und über Europa hinaus. Angela Merkel, FrankWalte­r Steinmeier und Wolfgang Schäuble sind dieser von Bundespräs­ident Joachim Gauck schon früh definierte­n Herausford­e- rung auch ganz persönlich gerecht geworden, so wie die große Koalition insgesamt. Da ist die Frage berechtigt, ob eine „kleine Koalition“sie auch gemeistert hätte. Die FDP konnte es jedenfalls nicht, wenn man sich nur an ihre damaligen Unsicherhe­iten in Sachen Griechenla­nd oder Libyen erinnert. Und die CSU ist heute eher ein Störfaktor. Allzu oft musste Merkel sich gegen die eigene Schwesterp­artei auf die SPD stützen. Nicht auszudenke­n, die Union hätte vor zwei Jahren knapp die absolute Mehrheit errungen und die deutsche Regierungs­politik wäre von den Stimmungss­chwankunge­n in München abhängig. Wie sich die Grünen in einer möglichen künftigen Koalition mit der CDU verhalten würden, weiß man nicht.

Sicher ist hingegen, dass die neue, gewachsene Rolle Deutschlan­ds sich mit einer Regierung unter Beteiligun­g der Linken nicht vereinbare­n lässt. Sie wäre sogar grob fahrlässig. Die zweite Hälfte der Legislatur­periode wird gewiss nicht weniger herausford­ernd. Aber es lässt sich schon jetzt sagen: Die Bürger konnten am 22. September 2013 nicht ahnen, vor welchen Herausford­erungen ihr Land stehen würde. Trotzdem haben sie bei der Wahl eine glückliche Hand gehabt.

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