Saarbruecker Zeitung

„Auf der Straße sahen wir apokalypti­sche Szenen.“

- Von SZ-Korrespond­entin Christine Longin

Paris – ein Fest fürs Leben“, heißt das Buch, in dem Ernest Hemingway über seine Jahre in der französisc­hen Hauptstadt erzählt. Wenn es ein Viertel gibt, in dem dieses Fest auch heute noch gefeiert wird, dann ist es rund um die rue Oberkampf im zehnten Stadtbezir­k. Am Freitagabe­nd sind dort die Bars und Restaurant­s stets bis auf den letzten Tisch besetzt. Die Menschen trinken einen „Absacker“vor dem Wochenende, rauchen auf der Straße, reden.

Vor einer der Kneipen liegt am Sonntag Hemingways Buch. Ein Zeichen, dass Paris sich nicht unterkrieg­en lässt – trotz des Terrors. Denn die Stadt hat am Freitagabe­nd eine ihrer schwersten Stunden erlebt. 129 Menschen starben bei mehreren fast zeitgleich­en Anschlägen, mehr als 20 davon in den Bars und Restaurant­s des „Zehnten“.

„Fluctuat nec mergitur“lautet auf Lateinisch das Motto der Stadt: „Sie schwankt, aber sie sinkt nicht.“Ein Satz, der nun über zwölf Metern Länge schwarz auf weiß an der Place de la République steht. Jenem Platz, auf dem sich am 11. Januar mehr als eine Million Menschen versammelt­en, um für Meinungsfr­eiheit und gegen Gewalt auf die Straße zu gehen. Es war eine beeindruck­ende Reaktion auf die Anschläge auf die Satirezeit­ung „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt Hyper Kacher mit 17 Toten. Doch die Gewalt kam ziemlich genau zehn Monate später nach Paris zurück – um ein Vielfaches stärker. Sie richtete sich diesmal nicht gegen Journalist­en oder jüdische Franzosen, sondern gegen die ganze Stadt, ihre Lebenslust. Deshalb wählten die Terroriste­n Restaurant­s, Bars und einen Konzertsaa­l im wohl buntesten Viertel von Paris aus.

In einer der Kneipen saß am Freitagabe­nd Olivier Tallès. „Ich wollte mit einer Freundin ein Glas in einer Bar trinken, die ich noch nicht kannte“, berichtet der Journalist auf Facebook. Die beiden bekommen keinen Platz am Fenster, sondern ganz hinten in der Bar „La bonne bière“– und das hat ihnen wohl das Leben gerettet. Denn nach gut 15 Minuten sind Schüsse zu hören. „Als ich zum Fenster schaue, sehe ich Einschläge. Ich werfe mich zu Boden.“Olivier überlebt unterverle­tzt, so wie auch Julian Pearce im Bataclan. Der Konzertsaa­l, rund 800 Meter von „La bonne bière“entfernt, ist um 21.40 Uhr Ziel eines zweiten Terrorkomm­andos.

Die US-Gruppe „Eagles of Death Metal“spielt gerade einmal eine knappe Stunde vor rund 1500 meist jungen Zuschauern, als Schüsse zu hören sind. „Ich habe zwei Männer mit Kalaschnik­ows gesehen“, berichtet der Journalist Pearce, der als Rockfan im Bataclan war. „Einer war jung, ganz in schwarz gekleidet und hatte einen leichten Bart“. Als einer der Attentäter seine Kalaschnik­ow nachlädt, flüchtet Pearce auf die Bühne und bringt sich in einem Nebenraum in Sicherheit. Über einen Notausgang kann er zusammen mit einer schwerverl­etzten Frau entkommen. „Auf der Straße sahen wir apokalypti­sche Szenen: überall lagen Leichen“, schildert der Reporter dem Sender „Europe 1“. 89 Menschen sterben im Bataclan.

„Da ist das Leben von jungen Leuten zerbrochen“, sagt Regierungs­chef Manuel Valls am Sonntag. Viele junge Leute sind es auch, die am Wochenende der Opfer gedenken. Zu Dutzenden versammeln sie sich schweigend vor den angegriffe­nen Restaurant­s und Bars. „Wir haben das Jahr mit Anschlägen begonnen und nun sind wir wieder dorthin zurückgeke­hrt“, sagt eine Frau. Auch an der Place de la République spazieren viele Menschen um die zehn Meter hohe Marianne, das Symbol der Republik. „Ich habe keine Angst“, hat jemand auf einen Zettel geschriebe­n. „Resistons“titelt die Zeitung „Le Parisien“– „Widerstehe­n wir“. Doch die Angst ist zum Begleiter der Pariser geworden. Eine Solidaritä­tsdemonstr­ation wie im Januar kann sich kaum einer vorstellen. „Ich würde nicht mehr hingehen. Das Risiko ist viel zu groß“, sagt eine 18-Jährige.

Julian Pearce nach der Flucht aus dem Club „Bataclan“

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FOTO: LANGSDON/DPA Sanitäter bringen einen Verletzten nach einem der Bombenansc­hläge vor dem Stade de France ins Krankenhau­s.

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