„Auf der Straße sahen wir apokalyptische Szenen.“
Paris – ein Fest fürs Leben“, heißt das Buch, in dem Ernest Hemingway über seine Jahre in der französischen Hauptstadt erzählt. Wenn es ein Viertel gibt, in dem dieses Fest auch heute noch gefeiert wird, dann ist es rund um die rue Oberkampf im zehnten Stadtbezirk. Am Freitagabend sind dort die Bars und Restaurants stets bis auf den letzten Tisch besetzt. Die Menschen trinken einen „Absacker“vor dem Wochenende, rauchen auf der Straße, reden.
Vor einer der Kneipen liegt am Sonntag Hemingways Buch. Ein Zeichen, dass Paris sich nicht unterkriegen lässt – trotz des Terrors. Denn die Stadt hat am Freitagabend eine ihrer schwersten Stunden erlebt. 129 Menschen starben bei mehreren fast zeitgleichen Anschlägen, mehr als 20 davon in den Bars und Restaurants des „Zehnten“.
„Fluctuat nec mergitur“lautet auf Lateinisch das Motto der Stadt: „Sie schwankt, aber sie sinkt nicht.“Ein Satz, der nun über zwölf Metern Länge schwarz auf weiß an der Place de la République steht. Jenem Platz, auf dem sich am 11. Januar mehr als eine Million Menschen versammelten, um für Meinungsfreiheit und gegen Gewalt auf die Straße zu gehen. Es war eine beeindruckende Reaktion auf die Anschläge auf die Satirezeitung „Charlie Hebdo“und den jüdischen Supermarkt Hyper Kacher mit 17 Toten. Doch die Gewalt kam ziemlich genau zehn Monate später nach Paris zurück – um ein Vielfaches stärker. Sie richtete sich diesmal nicht gegen Journalisten oder jüdische Franzosen, sondern gegen die ganze Stadt, ihre Lebenslust. Deshalb wählten die Terroristen Restaurants, Bars und einen Konzertsaal im wohl buntesten Viertel von Paris aus.
In einer der Kneipen saß am Freitagabend Olivier Tallès. „Ich wollte mit einer Freundin ein Glas in einer Bar trinken, die ich noch nicht kannte“, berichtet der Journalist auf Facebook. Die beiden bekommen keinen Platz am Fenster, sondern ganz hinten in der Bar „La bonne bière“– und das hat ihnen wohl das Leben gerettet. Denn nach gut 15 Minuten sind Schüsse zu hören. „Als ich zum Fenster schaue, sehe ich Einschläge. Ich werfe mich zu Boden.“Olivier überlebt unterverletzt, so wie auch Julian Pearce im Bataclan. Der Konzertsaal, rund 800 Meter von „La bonne bière“entfernt, ist um 21.40 Uhr Ziel eines zweiten Terrorkommandos.
Die US-Gruppe „Eagles of Death Metal“spielt gerade einmal eine knappe Stunde vor rund 1500 meist jungen Zuschauern, als Schüsse zu hören sind. „Ich habe zwei Männer mit Kalaschnikows gesehen“, berichtet der Journalist Pearce, der als Rockfan im Bataclan war. „Einer war jung, ganz in schwarz gekleidet und hatte einen leichten Bart“. Als einer der Attentäter seine Kalaschnikow nachlädt, flüchtet Pearce auf die Bühne und bringt sich in einem Nebenraum in Sicherheit. Über einen Notausgang kann er zusammen mit einer schwerverletzten Frau entkommen. „Auf der Straße sahen wir apokalyptische Szenen: überall lagen Leichen“, schildert der Reporter dem Sender „Europe 1“. 89 Menschen sterben im Bataclan.
„Da ist das Leben von jungen Leuten zerbrochen“, sagt Regierungschef Manuel Valls am Sonntag. Viele junge Leute sind es auch, die am Wochenende der Opfer gedenken. Zu Dutzenden versammeln sie sich schweigend vor den angegriffenen Restaurants und Bars. „Wir haben das Jahr mit Anschlägen begonnen und nun sind wir wieder dorthin zurückgekehrt“, sagt eine Frau. Auch an der Place de la République spazieren viele Menschen um die zehn Meter hohe Marianne, das Symbol der Republik. „Ich habe keine Angst“, hat jemand auf einen Zettel geschrieben. „Resistons“titelt die Zeitung „Le Parisien“– „Widerstehen wir“. Doch die Angst ist zum Begleiter der Pariser geworden. Eine Solidaritätsdemonstration wie im Januar kann sich kaum einer vorstellen. „Ich würde nicht mehr hingehen. Das Risiko ist viel zu groß“, sagt eine 18-Jährige.
Julian Pearce nach der Flucht aus dem Club „Bataclan“