Sitzt bei Deutschlands Polizisten die Dienstwaffe zu locker?
Neue Waffen-Debatte nach Einsätzen in Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern – Saar-Experte: Gefahr für Polizisten steigt dramatisch
In drei Ländern haben Polizisten binnen weniger Wochen auf Menschen geschossen. Hat die Polizei die Finger zu schnell am Abzug? Nein, sagen die Zahlen. Experten sehen aber eine zunehmende Gefahr durch Überreaktionen.
Saarbrücken/Bremen. Ein Polizist feuert in Bremen mehrmals durch eine geschlossene Wohnungstür. Dabei verletzt er eine 17-Jährige schwer, die hinter der Tür steht. In Mecklenburg-Vorpommern schießt ein Mobiles Einsatzkommando auf ein Auto, in dem die Beamten eine Rotlichtgröße vermuten. Ein Mann verliert dadurch sein Auge – der gesuchte Kriminelle befindet sich nicht in dem Wagen. In Berlin gibt ein Zivilfahnder Schüsse auf ein Auto mit mutmaßlichen Einbrechern ab – und tötet den Fahrer.
Innerhalb von vier Wochen sind das drei Polizeieinsätze, die für Schlagzeilen sorgen. Denn wenn in Deutschland Polizisten auf Menschen schießen, ist das eine sensible Angelegenheit. Oft geraten die Fahnder danach selbst ins Kreuzfeuer. Handelte es sich um Notwehr? War es verhältnismäßig, die Verdächtigen so zu stoppen? Das muss jetzt die Staatsanwaltschaft entscheiden.
Leichtfertig greife in Deutschland kein Polizist zur Waffe, sagt der saarländische Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Ralf Porzel: „Es ist nur das letzte Mittel.“Das belegt auch eine Statistik: 2014 schossen Polizisten in 46 Fällen gezielt auf Verdächtige. Dabei töteten sie sieben Menschen, 31 wurden verletzt. 2013 waren es 38 Fälle mit acht Getöteten und 20 Verletzen. Die Zahlen für 2015 liegen nach Angaben der Deutschen Hochschule der Polizei noch nicht vor.
„Generell macht die Polizei selten Gebrauch von der Schusswaf- fe“, sagt der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt. Wie sind da die drei jüngsten Fälle zu bewerten? „Ich hoffe, dass das kein Anzeichen von wachsender Nervosität bei der Polizei ist.“Wendt sieht seine Kollegen immer stärker wegen steigender Flüchtlingszahlen, Terrorgefahr und politischen Extremismus gefordert. Gleichzeitig nimmt auch die Gewalt gegen Beamte zu. „Das nimmt dramatische Züge an“, warnt Porzel. Er meint damit nicht nur die Zahl der Übergriffe, sondern auch die Brutalität. „Zuletzt wurde einem Beamten in Burbach bei einer Festnahme eine Fleischergabel ins Bein gerammt.“Auch die Zahl der kleinen Waffenscheine, die unter anderem für Gas- und Schreckschusspistolen nötig sind, hat den beiden Polizei- Gewerkschaften zufolge explosionsartig zugenommen. „Die Waffen sehen täuschend echt aus. In einer Notsituation kann kein Polizist erkennen, dass es Attrappe sind“, sagt Porzel. So könnte es auch bei den Schüssen vor der Wohnung in Bremen gewesen sein. Der Mieter hatte zuvor durch einen Türspalt mit einer Gaspistole geschossen, weil er eigenen Angaben nach die Polizei für Randalierer hielt, bestätigt Wendt.
Leidtragende der zunehmenden Bewaffnung in der Bevölkerung sind nach Ansicht des Hamburger Polizeiforschers Rafael Behr vor allem die Streifenpolizisten. Sie werden zu vermeintlichen Bagatelldelikten wie Ruhestörung und Streit unter Eheleuten gerufen – und plötzlich zückt jemand eine Waffe. „Der einfache Schutzmann kommt dadurch in Situationen, die er falsch einschätzt“, sagt der Professor von der Akademie der Polizei. Im Gegensatz zu den Spezialeinheiten haben Streifenpolizisten auch weniger Praxis im Umgang mit ihrer Dienstwaffe. Meist kommen sie laut GdP-Chef Porzel nur einmal im Jahr zum Schießtraining.
Überreaktionen können die Folge sein. „Ich habe den Eindruck, dass Polizisten heute schneller zur Waffe greifen“, sagt der Rechtsanwalt Benjamin Richert. Er vertritt den 27-Jährigen, der bei dem Polizeieinsatz in Mecklenburg-Vorpommern ein Auge verloren hat. Einen Grund für den mitunter möglicherweise vorschnellen Griff zur Dienstwaffe sieht Richert in Einsparungen bei der Polizei, die zu vielen Überstunden und Übermüdung der Beamten geführt hätten.
Doch in vielen Fällen würden folgenschwere Fehleinschätzungen nicht ordentlich aufgearbeitet, kritisiert der Berliner JuraProfessor Hartmut Aden. „Es gibt manchmal unangemessen viel Nachsicht mit Fehlverhalten. Em- pirische Studien zeigen, dass Polizisten in solchen Fällen selten belangt werden und dass ihnen viel Verständnis von der Staatsanwaltschaft entgegengebracht wird.“Nur, wenn jeder Einsatz einer Schusswaffe gründlich untersucht werde, könne man aus Fehlern lernen und die Konsequenzen ziehen – „egal welche“, meint Porzel.
Unabhängig davon, wie die Ermittlungen ausgehen – ein Polizist, der auf einen Menschen geschossen hat, leidet oft sein Leben lang. „Das Selbstverständnis eines Polizisten ist, Leben zu schützen. Doch dann steht er plötzlich vor der Wahl: der Täter oder ich“, sagt der inzwischen pensionierte Polizeihauptkommissar Reinhold Bock, der vor Jahren die Selbsthilfegruppe „Schusswaffenerlebnis“für betroffene Kollegen gegründet hat. „Daran zerbrechen viele.“