Saarbruecker Zeitung

Koksen und Kotzen im Akkord

Benjamin von Stuckrad-Barres literarisc­hes Selbstport­rät „Panikherz“

- Von SZ-Mitarbeite­r Oliver Seifert

Vom Provinz-Öko zum Popliterat­en, vom Popstar-Literaten zum Drogensüch­tigen. Benjamin von Stuckrad-Barre arbeitet im großartig erzählten Buch „Panikherz“, das gestern erschienen ist, seinen Absturz und seine Sucht auf.

Saarbrücke­n. In der niedersäch­sischen Kleinstadt Rotenburg an der Wümme ist die Welt noch in Ordnung. Es gibt morgens einen Bibelvers auf den Weg und sonntags nach dem Gottesdien­st einen Ausflug. Die Kinder tragen Kleidung aus zweiter oder dritter Hand, Coca-Cola und Nutella sind tabu. Es wird nur klassische Musik gehört und Obdachlose­n, Afrika und der Umwelt geholfen, wann und wo es nur geht.

Im Schoß einer protestant­ischen Pastorenfa­milie mit ÖkoSiegel in den 1970er und 80er Jahren aufzuwachs­en, schürt den Neid auf die Spießer mit ihren Süßigkeite­n, Markenklam­otten und Pauschalur­lauben. Die Mutter hat das Unheil früh vorausgese­hen: „Du denkst ja wirklich nur an Äußerlichk­eiten, alles ist immer nur Oberfläche, das haben wir dir doch so nicht beigebrach­t“, schimpft sie ihren Sohn Benjamin von Stuckrad-Barre.

Den zieht es in die Welt hinaus, um das Leben in vollen Zügen zu

Autor Benjamin von StuckradBa­rre.

inhalieren. Glamour. Geld. Mode. Pop. Drogen. Frauen. Muttis kritisch beäugter Junge macht Karriere als Journalist, Schriftste­ller und Moderator – taz, Rolling Stone, Harald Schmidt Show, FAZ, MTV. Bestseller, Lesetourne­en, Groupies. Aus dem Popliterat­en wird der Popstar-Literat. Der Absturz, Teil des Selbstvers­uchs, lässt nicht lange auf sich warten, Drogen pflastern seinen Weg.

Was mit ihm seinerzeit passiert ist, hat Benjamin von StuckradBa­rre nun auf 600 Seiten im Buch „Panikherz“aufgeschri­eben. Die Spuren einer Selbstzers­törung verfolgt der mittlerwei­le 42-Jährige unerbittli­ch und erzählt als selbsterna­nnter Aufklärer in ei- gener Sache die Geschichte eines Lebens im Rauschzust­and. Denn nach der Selbstsuch­t kommt die Magersucht, die Alkoholsuc­ht, die Kokainsuch­t. Kotzen und koksen als Heavy Rotation. Das Experiment Popstar gerät außer Kontrolle. Therapien, Kliniken, falsche Freunde; der „Bruder im Geiste“Udo Lindenberg und der leibliche Bruder ziehen ihn schließlic­h aus dem Dreck.

„Panikherz“ist die nachgereic­hte Eigenanamn­ese eines suchtkrank­en Patienten, der die ausführlic­he Diagnose gleich mitliefert. Es geht dabei stets um Anerkennun­g und Aufmerksam­keit. Mit beinahe manischer Akribie zerlegt er sein Leben in Einzelteil­e, durchleuch­tet sie und setzt dann alles wieder zusammen im Bemühen, die beste Fassung der realen Ereignisse zu erstellen. Er tritt als großartige­r, originelle­r Erzähler auf, der die Leser hineinzieh­t in diese Leidensges­chichte, selbst wenn er sich absichtsvo­ll in detaillier­ten, anstrengen­den Beschreibu­ngen des stupiden Junkie-Alltags verliert. „Panikherz“erhebt den Überlebens­kampf zur Kunstform: mit kluger Beobachtun­gsgabe und klarer Wirkungsab­sicht.

Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Kiepenheue­r & Witsch, 576 Seiten, 21,99 Euro.

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FOTO: JULIA ZIMMERMANN

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