„Zum Traurigsein ist es noch zu früh.“
Durchstoß zu den derzeit in Metropolen-Häusern wie etwa dem Berliner Maxim-GorkiTheater gepflegten progressiven Formaten. „Was werden wir werden?“fragt die Sparte 4 die „etwas leiseren“Experten, wie Diem gestern bei der Spielplan-Präsentation darlegte. Er will der derzeit „lauten, hysterischen Debatte“um Heimat, Kunst, Migration und Sex ein „etwas genaueres Nachdenken“entgegenstemmen. Erwarten darf man laut Diem Erfrischenderes als die Talkshow-StandardTänze. Sparte 4 rediviva? Es scheint, als wolle Chef Diem, der vor geraumer Zeit in der SZ über Erschlaffungserscheinungen der Spielstätte sprach, beweisen, dass doch noch genügend Innovationsenergie aktivierbar ist.
Die Zeit reif für eigenwillige Akzente sah offensichtlich auch Tanzcompany-Chef Stijn Celis. Er legte ein Programm vor, in dem sich seine persönliche Weiterentwicklung – er vertanzt Bach und bringt Strawinskys „Pulcinella“– wunderbar verzahnt mit der der Company. Statt weiter im Opernfach zu bleiben, das er mit Intendantin Dagmar Schlingmann „Platée“diese Saison erstmals betrat, inszeniert er nun, ebenfalls erstmals, ein Musical, die „West Side Story“. Das ist ein höchst ungewöhnlicher Schritt für einen Ballettchef ins vermeintliche Unterhaltungsgenre, zugleich ein Aufbrechen der Sparten- Grenze zur Oper.
Letztere trägt in der kommenden Spielzeit noch ein letztes Mal die Handschrift von Operndirektorin Brigitte Heusinger und wird nach deren Schilderungen nahezu perfekt. So habe sie beispielsweise die Idealbesetzung für Verdis „Simon Boccanegra“(Olafur Sigurdarson, Hiroshi Matsui, Yitian Luan). Auch konnte sie alle ihre Regie-Wunschkandidaten verpflichten, etwa den in Saarbrücken entdeckten und mittlerweile hoch gehandelten Ben Baur für Janáceks „Katja Kabanowa“oder Johannes Erath, der an Tophäusern wie der Staatsoper München oder der Dresdener Semperoper gefragt ist. Enthusiastisch äußerte sich Heusinger zum Saarbrücker Niveau: „Ich werde nie mehr ein solches Sängerensemble haben und hatte es noch nie.“Dass der Mode-Star Christian Lacroix an einem solchen Heusinger-Top-Haus als Kostümbildner arbeiten wird („Boccanegra“), klang dann nur noch folgerichtig.
Denn auch Generalmusikdirektor Nicholas Milton, der ein erfreulich munteres und dichtes Konzertprogramm mit Abstechern in die Alte Schmelz nach St. Ingbert und einer Art Christian-Lindberg-Festival vorstellte, überschlug sich förmlich im Lob über das Orchester, das „Unglaubliches“leiste. Freude, schöner Götterfunken? Milton hat’s leicht, er kann, wie Celis, noch eine Saison länger bleiben (die SZ berichtete). Loslassen muss demhingegen Chefdramaturgin Ursula Thinnes, die vor zehn Jahren mit Schlingmann ins Saarland kam, ihr und Diem jetzt jedoch nicht nach Braunschweig folgt. Sie wechselt ans Schauspiel Frankfurt.