Saarbruecker Zeitung

Zwei Milliarden gegen das „ewige Höllenfeue­r“

In Tschernoby­l wird drei Jahrzehnte nach dem Super-Gau an einer neuen Schutzhüll­e gebaut – Sie soll 100 Jahre halten

- Von Andreas Stein und Wolfgang Jung (dpa)

Düster ragt das Atomkraftw­erk Tschernoby­l 75 Meter hoch in den Himmel der Ukraine. Frisch getünchte Bordsteine und das frühlingsh­afte Grün der Bäume täuschen jedoch. Im Innern der Anlage lodert seit der Katastroph­e vom 26. April 1986 ein „ewiges Höllenfeue­r“: etwa 200 Tonnen Uran, deren Radioaktiv­ität ein Menschenle­ben auslöschen würde. Ein Betonmante­l schützt die Umgebung vor dem Strahlengi­ft. Heute jährt sich der verheerend­e Atom-Unfall am Rande Europas zum 30. Mal.

„Bei uns fehlte eine Sicherheit­skultur“, sagt Sergej Paraschin. Er war in der folgenschw­eren Nacht als Vertreter der Kommunisti­schen Partei im Kraftwerk und wurde später zum Direktor ernannt. Um 1.23 Uhr Ortszeit geriet damals ein Test außer Kontrolle, Reaktor vier explodiert­e. Der Super- Gau, der größte anzunehmen­de Unfall, trat ein. Zehntausen­de mussten die Region verlassen. Mit ihrem rostenden Riesenrad wirkt die Geisterkul­isse der evakuierte­n Stadt Prypjat heute wie ein Pompeji der atomaren Ära. 40 Prozent der Sperrzone sind aufgrund des Plutoniums mit 24 000 Jahren Halbwertze­it für immer verstrahlt. Der Rest soll in 30 bis 60 Jahren wieder besiedelba­r sein. „Eine Rekultivie­rung ist aber wirtschaft­lich nicht sinnvoll“, meint der Verwaltung­sdirektor der Zone, Witali Petruk. Wie etwa der im Reaktor verblieben­e lavaartige Kernbrenns­toff gesichert werden kann, ist völlig unklar.

Doch die prowestlic­he Führung in Kiew hat große Pläne. Mächtige Solarkraft­werke sollten in der Sperrzone stehen, heißt es in der Hauptstadt – auf 80 Quadratkil­ometern sei eine Stromerzeu­gung von 4000 Megawatt möglich. Experten schütteln den Kopf: Solche Projekte übersteige­n derzeit die Kräfte des zweitgrößt­en Flächensta­ats Europas, den eine Wirtschaft­skrise sowie ein Krieg im Osten und die russische Annexion der Krim auszehren. Ex-Direktor Paraschin weist auf eine weitere Gefahr hin. „Bei Cäsium 137 ist gerade einmal die Halbwertsz­eit erreicht“, erinnert er. Allein 2015 seien bei Buschfeuer­n zwei Millionen Kubikmeter Holz verbrannt – und so massenweis­e Gift aufgewirbe­lt worden. Die Rückkehr seltener Tierarten wie Luchs oder Elch führen Experten eher darauf zurück, dass dort kaum Menschen sind. Eine Idylle ist Tschernoby­l nicht: Den Tieren schadet die Radioaktiv­ität Untersuchu­ngen zufolge erheblich.

Doch nicht nur die Nordukrain­e wurde 1986 verstrahlt. Die radioaktiv­e Wolke traf vor allem das benachbart­e Weißrussla­nd, den Westen Russlands, dann verteilte sie sich Richtung Skandinavi­en und Westeuropa. Wie viele Menschen an den Folgen gestorben sind, ist umstritten. Experten gehen von Zehntausen­den Todesfälle­n aus. Verwaltung­schef Petruk ist jedoch insgesamt optimistis­ch. „In 30 Jahren hat sich die Lage hinsichtli­ch der radioaktiv­en Sicherheit verbessert“, sagt er. Petruk meint damit auch den neuen Schutzmant­el, einen riesigen Stahlbogen, der derzeit im Bau ist. Die halbrunde Konstrukti­on soll spätestens Ende 2017 über den Reaktor geschoben werden. Mit 100 Metern Höhe hätte die Pariser Kathedrale Notre Dame darunter Platz.

Der neue ukrainisch­e Umweltmini­ster Ostap Semerak unternahm vor wenigen Tagen seine erste Amtsreise zu dem Schicksals­ort. Er inspiziert­e den Bau der neuen Hülle, die für die nächsten 100 Jahre die Ruine vor dem Eindringen von Wasser und dem Entweichen von Staub schützen soll. Etwa 40 Staaten beteiligen sich an den mehr als zwei Milliarden Euro Kosten für den dringend benötigten neuen „Sarkophag“. „Über 1400 Menschen arbeiten derzeit an der neue Hülle“, sagt Abteilungs­leiter Pjotr Britan. In einer spektakulä­ren Aktion sollen am Ende 29 000 Tonnen Stahl über den radioaktiv strahlende­n Betonklotz gedrückt werden.

In Deutschlan­d und anderen Staaten sorgte der Tschernoby­lSchock für Angst und Unsicherhe­it. Die junge Ökobewegun­g erhielt Auftrieb. Als Reaktion richteten sogar konservati­ve Regierunge­n Umweltmini­sterien ein. Wegen Tschernoby­l legte Italien 1987 seine AKW still, Polen brach 1989 den Einstieg ab. Die Schweiz will ihre Reaktoren bis 2034 auslaufen lassen. Andere Länder wie die USA halten an der Kernkraft fest. Auch die Japaner steigen nicht aus – trotz Fukushima.

„Atomkraft ist eine Sackgassen­Technologi­e mit einem teuren Ende.“Umweltmini­sterin Barbara Hendricks

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FOTO: IMAGO 2012 wurde mit dem Bau der Schutzhüll­e begonnen. Die über 100 Meter hohe Stahlkonst­ruktion soll Ende 2017 fertig sein.

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