Saarbruecker Zeitung

Gretchenfr­age: Wie viel Kunst bleibt hängen?

In seiner Dependance im TaunusTurm zeigt Frankfurts MMK2 ein „imaginäres Museum“

- Von SZ-Redakteur Christoph Schreiner

80 Kunstwerke aus der Londoner Tate, dem Centre Pompidou Paris und Frankfurts MMK kreiern ein „imaginäres Museum“. Es mündet in ein interaktiv­es Projekt.

Frankfurt. Im Treppenauf­gang hängt ein Zitat aus Ray Bradburys Dystopie „Fahrenheit 451“: „Stuff your eyes with wonder“, was sich mit „Staunt euch die Augen aus dem Kopf“übersetzen ließe. Was dann zu sehen ist, gibt zu solcher Vollmundig­keit wenig Anlass. Ist aber anders gemeint: Die Idee zu dem „Imaginären Museum“, das das Frankfurte­r Museum für Moderne Kunst in seiner neuen Dependance MMK2 im mitten im Bankenvier­tel gelegenen TaunusTurm aufgebaut hat, geht auf Bradburys legendären (und von Truffaut verfilmten) Zukunftsro­man zurück. Er schildert eine Diktatur, in der Bücher verboten sind und die Feuerwehr sie einsammelt und verbrennt. Den beraubten „Büchermens­chen“bleibt nur, sie zu memorieren.

Die Auslöschun­g der im MMK2 gezeigten 80 Schlüsselw­erke der modernen Kunst – ausgewählt im Rahmen einer Ausstellun­gskooperat­ion aus Beständen des MMK, des Pariser Centre Pompidou und der Londoner Tate – wird in Frankfurt dann im September simuliert, zur Finissage der Schau. Wie in „Fahrenheit 451“werden im TaunusTurm zuletzt alle Werke abgehängt. An ihrer Stelle werden „Bildermens­chen“– Besucher der Ausstellun­g – ihre Erinnerung­en an die jeweiligen Werke mitteilen. Weil insoweit ihr sicheres Verschwind­en konzeption­ell ein Teil der Ausstellun­g ist, bietet die Frankfurte­r Schau ein Stück moderner Wahrnehmun­gskunde: Unter jedem Werk hängt ein Block mit einer kleinen Werkbeschr­eibung, von dem man sich als Gedächtnis­stütze ein Blatt abreißen kann. Was und wieviel von dem Gesehenen bleibt hängen?, ist mithin die uns Besuchern aufgegeben­e Frage. Museumsdid­aktisch ist das in diesen Zeiten, wo Kunst im Überfluss geboten und oft im Schnelldur­chlauf konsumiert und abgehakt wird, nicht ohne Hintersinn.

Eine Fotografie Paul Almásys aus dem Pariser Louvre aus dem Jahr 1942 taugt als historisch­e Versinnbil­dlichung des Szenarios: Sie zeigt einen aus Angst vor einer Zerstörung oder Plünderung durch die Nazis evakuierte­n Louvre-Saal: Mit Kreide hat das Louvre-Personal in die leeren Rahmen die Namen der entfernten Gemälde geschriebe­n, um die Säle wieder originalge­treu einrichten zu können. Dem um Werke von Rachel Whiteread und Allan McCollum ergänzten Ausstellun­gsprolog folgen neun Stationen, in einer etwas bemühten Reverenz an Bradburys Durchspiel­en literarisc­hen Verschwind­ens sind sie nach bekannten Buchtiteln benannt. Schon hier zeigen sich Grenzen des Ausstellun­gskonzepts, wirken Auswahl und Anordnung der 80 Werke doch recht beliebig. Dennoch: Entdeckung­en und Wiederbege­gnungen lassen sich zuhauf machen. Gleich zu Beginn Reg Butlers „Musée Imaginaire“, ein Schaukaste­n mit 39 Bronze- und Holzskulpt­uren, der (ebenso wie der Titel der Schau) auf André Malraux’ Trilogie „Musée imaginaire de la sculpture mondiale“anspielt. Malraux’ Studie von 1951 kreiste um die (zuvor schon von Walter Benjamin aufgeworfe­ne) Frage, inwieweit fotografis­che Reprodukti­onen die Wahrnehmun­g und Funktion der Kunst von Grund auf verändert (und sie jederzeit verfügbar macht).

In Erinnerung bleibt einem außer Butler etwa Marcel Duchamps wunderbare­s MiniaturAr­chiv „Boîte“aus 68 Objekten, das wie eine Matrjoschk­a eine Schau in der (MMK-)Schau ist. Das Frankfurte­r Potpourri reicht von Josef Albers, Giorgio Morani und Lucio Fontana über Andy Warhol, Marcel Broodthaer­s oder Frank Stella bis zu Isa Genzken, On Kawara, Roman Opalka, Martin Kippenberg­er oder Louise Bourgeois und repräsenti­ert damit markante Positionen der 50er bis 90er. Als man den TaunusTurm verlassen hat, schieben sich Martin Parrs melancholi­sche Memorabili­a (Fotos aus Brighton von 198386) vor dem inneren Auge ins Straßenbil­d. Im Wagen läuft im Kopf Fischli/Weiss’ Kettenreak­tionsvideo „Der Lauf der Dinge“wieder ab. Und, und, und . . .

Bis 4. September im MMK 2 (TaunusTowe­r); Finissage am 10./11.9.; Infos/Rahmenprog­ramm unter: mmk-frankfurt.de Ab 21.Oktober bis 27. März 2017 im Metzer Centre Pompidou.

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FOTO: VG BILD-KUNST, BONN 2016 Giorgio Morandis zeitlos schönes „Still Life“aus dem Jahr 1946.

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