Noch immer strahlen in Bayern Pilze und Wild
Keine Gefahr für Deutschland, heißt es noch Tage nach dem Super-Gau von Tschernobyl. Aber Regenwolken bringen die radioaktiven Teilchen nach Westen. Auch 30 Jahre danach strahlt noch manches – vor allem in Bayern. München. Zuerst treibt die Wolke nach Norden. An einem AKW in Schweden wird erhöhte Radioaktivität gemessen. Alarm. Doch der Meiler läuft ohne Störung. Die Radioaktivität kommt aus dem Osten. In Finnland, Polen und der DDR steigen die Werte. Politiker in Deutschland betonen unisono: keine Gefahr. Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) sagt drei Tage nach dem Gau von Tschernobyl, eine Gefährdung sei „absolut auszuschließen“. Die bestehe nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometern. „Wir sind 2000 Kilometer weg.“
Dann dreht der Wind. Plötzlich gibt es erhöhte Werte auch in Westdeutschland. Fußballspiele werden abgesagt, Freibäder und Spielplätze gesperrt, Sandkästen geleert, Gemüse untergepflügt. In den Supermärkten: Sturm auf Dosen. Frisches ist tabu. Wer nach Hause kommt, zieht die Schuhe aus und duscht, um keinen verseuchten Staub in die Wohnung zu tragen. Wenn es regnet, laufen die Menschen in Panik wie um ihr Leben – wegen des Fallouts, den niemand recht einschätzen kann.
Bundesweit am schlimmsten trifft es Bayern, dort wiederum Gegenden, über denen zufällig an diesen ersten Maitagen 1986 Gewitter niedergehen: Landstriche in Schwaben, im Bayerischen Wald und im Süden Oberbayerns. Auch 30 Jahre nach der Katastrophe werden dort manchmal bei Wild und Pilzen Belastungen um ein Vielfaches über dem Grenzwert gemessen. „Ganz krass ist es bei den Wildschweinen“, sagt Christina Hacker, Vorstandsmitglied beim Umweltinstitut München. Die Schweine lieben Trüffel; sie fressen Egerlinge – und die im Wald teils belastete Erde mit dazu. „In allen sauren Böden kann sich das Caesium 137 oberflächennah halten. Deshalb gibt es die Problematik in Wäldern und Mooren.“Caesium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Gerade einmal die Hälfte davon ist also zerfallen. Es dauere zehn Halbwertzeiten, bis in etwa der frühere Zustand wieder hergestellt sei, sagt Hacker.
In Feldern ist das radioaktive Isotop ausgespült und in tiefere Schichten gewandert. Getreide, Gemüse und Fleisch außer Wild sind ohne erhöhte Werte. Stichproben des Landesamtes für Umwelt weisen in Pilzen und Wildschwein aber noch manchen Spitzenwert aus: Pilze aus Garmisch, gemessen am 18. Dezember: 4900 Becquerel. Wildschwein aus Nürnberg vom 17. September: 1200 Becquerel. Der Grenzwert liegt bei 600, nur 370 Becquerel dürfen es bei Milchprodukten und Babyessen sein. Nahrungsmittel, deren Werte darüber liegen, dürfen nicht verkauft werden. Jäger bekommen für belastetes Wild eine Entschädigung.
Die genauen Folgen des Gaus in Deutschland kennt niemand. Die Kindersterblichkeit sei danach signifikant erhöht gewesen, sagt Hacker. Auch von mehr Schilddrüsenerkrankungen werde berichtet. Ein Zusammenhang liege nahe, sei aber nicht erwiesen. Manches, glaubt Hacker, hätte vermieden werden können, wenn es die „Beschwichtigungspolitik“nicht gegeben hätte. „Die Behörden haben viel zu spät reagiert.“