Die SPD leidet an sich selbst
Gabriel dementiert Rücktrittsgerüchte – Parteichef macht mit Grundsatzrede Führungsanspruch deutlich
Erst krank, dann obskure Rücktrittsgerüchte: Sigmar Gabriel meldet sich zurück und rückt die verunsicherte SPD ein bisschen nach links. Das freut eine resolute Betriebsrätin aus dem Ruhrpott, die dem Vizekanzler ordentlich den Kopf wäscht.
Berlin. So einen Dialog hat es in der Politik auf offener Bühne noch nicht gegeben. Susanne Neumann, 56, Putzfrau, fragt: „Warum soll ich eine Partei wählen, die mir das eingebrockt hat?“Sie meint die befristeten Arbeitsverträge. Sigmar Gabriel, ebenfalls 56, SPD-Chef, antwortet: „Eine Änderung war mit der CDU nicht zu machen, die Schwarzen wollten das nicht. Was antwortest du auf dieses Argument?“Susanne Neumann, seit kurzem SPD-Mitglied, starker Ruhrpottdialekt, zögert keine Sekunde: „Warum bleibt ihr dann bei den Schwatten?“Im Willy-Brandt-Haus brandet Beifall auf.
Sigmar Gabriel hat zur „Wertekonferenz Gerechtigkeit“geladen, praktisch der Auftakt für die Wahlprogrammarbeit, und es wird eine überaus selbstkritische Veranstaltung. Nicht nur wegen Susanne Neumann, die als künftige Armutsrentnerin („725 Euro im Monat“) schon in etlichen Talkshows war. Sondern auch wegen Gabriel. Seine Grundsatzrede lässt keinen wunden Punkt aus. Dass es ein „Alarmsignal“ist, wenn nur noch 32 Prozent der Bürger der SPD die Kompetenz für soziale Gerechtigkeit zumessen, sagt er. Und auch, dass die SPD „wie eine emotional ermüdete Partei“wirkt. Vor allem die Rente sei für die SPD ein „Brennglasthema“. Wie unter einem Brennglas seziert der Vorsitzende die Glaubwürdigkeitsprobleme seiner Partei. Er kritisiert, ohne Namen zu nennen, den letzten Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück wegen der Abgeltungssteuer („ein Fehler“) und seinen direkten Vorgänger Franz Müntefering wegen der Rente mit 67 („in Wahrheit nichts anderes als eine Rentenkürzung“). Nur bei den Schlussfolgerungen wird er weniger konkret, da stellt er eher Fragen. Allerdings, auf Susanne Neumanns Vorschlag, die
Von Amtsmüdigkeit offenbar keine Spur: SPD-Chef Sigmar Gabriel (Mitte) gab sich gestern kämpferisch. Hier sitzt er in einer Reihe mit Hannelore Kraft, Olaf Scholz, Malu Dreyer und Ralf Stegner (von links).
Koalition mit der CDU, zu verlassen, findet er doch noch Argumente. Zum Beispiel, dass es sonst den Mindestlohn nicht gäbe. Und all die anderen Leistungen, die sich die SPD gutschreibt. Gabriel listet sie in einem Wortschwall auf, und fragt dann, was er denn hätte machen sollen. „Als ob ne Reinigungskraft dir sagen könnte, wie du dat hinkriegst“, sagt Neumann jetzt. Gabriels selbstkritischer, aber auch selbstbewusster Auftritt ist ein Dementi. Am Wochenende waren nämlich Rücktrittsgerüchte durch die Medien gegeistert, ausgelöst vom „Focus“-Herausgeber Helmut Markwort, der sich auf „zuverlässige Quellen“berief und behauptete, Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz solle den SPD-Chef beerben, der Wechsel stehe unmittelbar bevor. Der Europapolitiker Martin Schulz werde Kanzlerkandidat. Gabriel machte gestern jedenfalls nicht den geringsten Eindruck von Amtsmüdigkeit, weshalb Markwort im fernen München sinngemäß erklärt, möglicherweise sei er vom Informanten missbraucht worden, um die Wechselpläne zu sabotieren. Allerdings hat Gabriel erst vor einer Woche seinen engsten Vertrauten, Tobias Dünow, vom Wirtschaftsministerium ins WillyBrandt-Haus beordert, um dort die Abteilung Kommunikation zu leiten. Das macht man kaum, wenn man hinwerfen will. Olaf Scholz, der angebliche Nachfolger, ist an diesem Montag übrigens auch gekommen und wird sogleich von einem Journalistenpulk umringt. Wie überhaupt das große Medieninteresse an dieser Veranstaltung kaum dem offiziellen Thema gilt.
Der Absturz in den Umfragen bestimmt bei der SPD den Takt – die Unruhe ist groß. Gerüchte und Dementis beschäftigen die Spitze derzeit weit mehr, als sie nach außen zugibt und als einer normalen politischen Arbeit guttut. Zum Beispiel wird an diesem Wochenende auch berichtet, Gabriel wolle erst nach der NRW-Wahl im Mai 2017 über die Spitzenkandidatur entscheiden. Richtig daran ist, dass immer geplant war, danach den Parteitag mit der Ernennung zu machen; die eigentliche Entscheidung wollen Gabriel und die Führung aber wie geplant rund um den Jahreswechsel treffen. „Ich weiß nicht, ob die das lange durchhalten“, sagt einer, der in der zweiten Reihe der Regierung arbeitet, und zeigt zu Gabriel. Er sorgt sich. Der Vorsitzende war letzte Woche krank, eine Gürtelrose im Gesicht. So etwas kann stressbedingt ausbrechen.
Stilfragen: Parteichef Sigmar Gabriel wird selbst von Kritikern zugebilligt, dass er wie kaum ein anderer Politiker Stimmungen riechen und daraus politisch Kapital schlagen kann. Oft hat er aber sein Temperament nicht im Griff, reißt dann ein, was er gerade aufgebaut hat. So zofft er sich nicht nur mit Fernseh-Journalistinnen, sondern auch mit SPDFunktionären, die er für verbohrt hält. Beim letzten Parteitag ließ er sich von der JusoVorsitzenden Johanna Uekermann provozieren, die er rüde abkanzelte. Das kostete ihn einige Prozentpunkte bei seiner Wiederwahl als Parteichef. Ein Versöhnungsgespräch soll nicht wirklich etwas gebracht haben. Auch Bundesjustizminister Heiko Maas und Ex-Generalsekretärin Yasmin Fahimi wurden von Gabriel auf offener Bühne verspottet.