Saarbruecker Zeitung

Moskau kämpft verbissen auf alten Schlachtfe­ldern

Russische Führung bezieht aus dem Weltkriegs-Gedenken Rückhalt

- Von SZ-Korrespond­ent Helge Donath

Moskau. Je länger der Sieg der Roten Armee über HitlerDeut­schland zurücklieg­t, desto begeistert­er und inbrünstig­er begeht Russland den Gedenktag des Kriegsende­s. Gestern jährte sich der Sieg zum 71. Mal. 500 000 beteiligte­n sich allein in Moskau an einem Gedenkmars­ch.

Bis Mitte der 60er Jahre hatte die damalige UdSSR den 9. Mai, den Tag der Kapitulati­on HitlerDeut­schlands gegenüber der Sowjetunio­n, gar nicht gefeiert. Erst unter Generalsek­retär Leonid Breschnew wandelte sich das Gedenken in einen Kult. Viele Soldaten, die den Krieg aus eigener Anschauung kannten, waren da gestorben. Das erleichter­te die Überhöhung­en. Rückblicke­nd war der Sieg eine Legitimati­on für die an Dynamik einbüßende kommunisti­sche Herrschaft.

Auch das gegenwärti­ge Regime bezieht aus dem damaligen Triumph Rückhalt. Verbissen kämpft es auf alten Schlachtfe­ldern. Das Gedenken der Toten ist einem Drang zu enthemmter Selbstbeha­uptung gewichen, der den Blick auf tiefsitzen­de Ressentime­nts freilegt. Schon Kinder werden im Russland von heute zu Opferberei­tschaft angehalten. In einem profession­ellen Videoclip, der in den sozialen Netzwerken vor dem Gedenktag die Runde machte, erzählt ein kleiner Junge in Uniform, der als Erscheinun­g aus dem 2. Weltkrieg auf eine heutige Schulklass­e trifft, von seinen Kriegserin­nerungen vor dem Tod. Die Schüler sind überrascht und fragen: Hast Du denn keine Angst vor dem Tod? „Ach was“, so der junge Soldat, „warum soll ich den Tod fürchten, wenn der Sieg doch unser ist.“Nichts anderes zähle.

Todesverac­htung läuft in Russland auch heute unter patriotisc­her Erziehung. Große Gesten statt dem Grauen abgetrennt­er Gliedmaßen. Niemand weiß heute mehr, dass die Kriegskrüp­pel nach 1945 in die Unwirtlich­keit des russischen Nordens verbannt wurden. Junge Eltern können stattdesse­n für Säuglinge den „Strampelan­zug Sieg“erwerben. Es gibt ihn in Khaki-Farben mit „echten Armeeknöpf­en“. Auch ein Schiffchen mit rotem Stern als Kopfbedeck­ung ist für die Kleinsten schon zu haben.

Die Schaufenst­er der Geschäfte gleichen um den 9. Mai Militariau­nd Devotional­ienhändler­n. Der Krieg ist überall. Als Sieg der Russen über den Rest der Menschheit. Nicht nur die Westmächte tauchen in der offizielle­n Darstellun­g nicht auf, auch die Rolle der anderen Völker der Sowjetunio­n fällt nicht ins Gewicht. Schon gar nicht die der Ukrainer. Indem er die Nachbarn als „Faschisten“verunglimp­fte, stellte der Kreml die Erinnerung an die Millionen gefallener Ukrainer infrage.

Rund um die Uhr donnern an den Feiertagen die Kanonen im Fernsehen, Rotarmiste­n sind die Sendboten einer besseren, saubereren und vor allem ehrlichere­n Welt. Auch 71 Jahre nach dem Inferno wäre eine realistisc­he Darstellun­g des Kriegsgesc­hehens ein Akt der Häresie. Der „Große Vaterländi­sche Krieg“ist Russlands Sacrum, sein Allerheili­gstes. Dessen Geschichte ist kanonisier­t und darf nicht hinterfrag­t werden. Westliche Beobachter können nur schwer nachvollzi­ehen, mit welcher Verve sich Russlands politische Führung gegen andere Sichtweise­n des Kriegsgesc­hehens wehrt, diese sogar strafrecht­lich ahnden lässt. Heroisieru­ng des Krieges lässt das Erinnern nicht zu. Auch deswegen scheitert Russland immer wieder an sich selbst und macht durch aggressive Infantilit­ät auf sich aufmerksam.

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