Saarbruecker Zeitung

Sorglos surfen in Cafés und Bars

Große Koalition will Anbieter offener Netzwerke aus der Haftung nehmen

- Von Pascal Becher (SZ) und Jenny Tobien (dpa) Von SZ-Korrespond­ent Hagen Strauß

Jahrelang galt Deutschlan­d als Hotspot-Wüste. Frei zugänglich­es Internet gab es kaum, da die Anbieter für das Surfverhal­ten der Nutzer haften mussten. Die Regierung will das ändern – auch im Saarland löst das Jubel aus.

Saarbrücke­n/Berlin. Und da ist noch einer. Im Old Murphys, einem Irish Pub am Sankt Johanner Markt in Saarbrücke­n, hat sich gerade ein Gast ins freie Wlan-Netz eingewählt. Jetzt, um 16:13 Uhr, ist er damit Nutzer Nummer 29. Eine Gasse weiter, in der Boulangeri­e, surfen an diesem Mittwochna­chmittag drei Leute durchs freie Internet. Nochmal ein paar Häuser weiter, in Henrys Eismanufak­tur, sind es exakt sieben. Und an den über 400 weiteren Freifunker-Hotspots in der Landeshaup­tstadt und im ganzen Saarland schwirren weitere tausend Passanten mit ihren Smartphone­s und Netbooks durchs Internet herum.

Die digitale Karte des Saarbrücke­r Vereins Technik Kultur Saar hält neben einem Blick auf freie Netze auch eine frustriere­nde Botschaft bereit. In vielen Orten und Straßen leuchtet kein einziger Punkt für ein Freifunker-Netz. „Wir sind ein digitales Entwicklun­gsland“, sagt Andreas Agustin. Der 36-jährige Abgeordnet­e der Piratenpar­tei ist der stellvertr­etende Vorsitzend­e des Vereins, einem Zusammensc­hluss von Bürgern in der Region, der die Software für Freifunk-Netze seit 2015 gratis bereitstel­lt. Zwar sei auch in vielen anderen Regionen Deutschlan­ds die freie Hotspot-Kultur „mau“. „Im Saarland ist es aber gefühlt schlimmer“, sagt der studierte Informatik­er. Doch das könnte sich bald ändern.

Die große Koalition in Berlin will die „Störerhaft­ung“kippen. Mit anderen Worten: Wer sein privates Wlan anderen Nutzern künftig zu Verfügung stellt, kann nicht mehr für deren Verhalten im Netz verantwort­lich gemacht werden. Bislang hätten sie für das Surfverhal­ten Dritter mithaften müssen – ob das der Gast in der Kneipe ist oder der Nachbar, der das Internet mitnutzt und Filme illegal runterlädt. Um nicht in diese Haftungsfa­lle zu tappen, wollten sich viele Betreiber absichern. Viele Cafés und andere Hotspot-Betreiber boten den Zugang nur mit einem Passwort verschlüss­elt an und wiesen auf Vorschalts­eiten auf die bestehende Rechtslage hin, erklärt der Saar-Pirat. Die Folge ist für jeden sichtbar: Es gibt nur wenige freie Wlan-Netze.

Die Entscheidu­ng aus Berlin kann Augustin nicht recht fassen. „Das kommt jetzt wirklich überrasche­nd.“Bislang hätten die großen Parteien Anträge der Piraten hierzu weitgehend abgelehnt. Auch andere Netzpoliti­ker des Landes zeigten sich gestern überrascht, so beispielsw­eise der datenschut­zpolitisch­e Sprecher Andreas Augustin

Im Café mit dem Tablet durchs Wlan surfen? In Deutschlan­d ist das oft noch Wunschdenk­en. Die Betreiber schirmen ihre Netze ab – aus Angst, für illegale Handlungen der Kunden haften zu müssen.

der Linksfrakt­ion im Saarland, Ralf Georgi. „Die Koalition nähert sich hier ganz langsam der Realität an. Kein anderes Land behindert offene Wlans so wie Deutschlan­d“, lobte er dennoch Schwarz-Rot. Der Netz-Sprecher der Saar-Grünen, Michael Neyses, begrüßte es, dass die große Koalition „endlich die Störerhaft­ung abschaffen“will. Damit falle „ein großes Hemmnis zur Einrichtun­g kostenfrei­er, öffentlich­er Wlan-Zugänge“und der Weg sei frei für eine verbessert­e digitale Infrastruk­tur.

Dem gestrigen Beschluss von Union und SPD ging allerdings ein zähes Ringen voraus. Noch im September hatte das Kabinett Änderungen des Telemedien­gesetzes beschlosse­n und sah dabei vor, dass die Anbieter weiterhin „einfache Sicherheit­svorkehrun­gen“wie beispielsw­eise ein Passwort oder eine Einverstän­dniserklär­ung zu rechtskonf­ormem Verhalten vorschalte­n müssen. Sie sollten also weiterhin für die Vergehen ihrer Kunden verantwort­lich gemacht werden können. Und so sorgte die geplante Gesetzesän­derung für Streit– auch im Kabinett selbst. Am Ende soll Kanzlerin Angela Merkel die Abgeordnet­en der Union und der SPD zur Eile gemahnt haben.

Den „entscheide­nden Druck“, vermutet Andreas Augustin allerdings, habe im März ein Gutachten des Generalanw­alts des Europäisch­en Gerichtsho­fs in einem Klage-Verfahren von Pirat Tobias McFadden gegen die Störerhaft­ung gebracht. Maciej Szpunar erklärte in seiner Stellungna­hme,

Man kann der großen Koalition in Berlin nur gratuliere­n, dass sie endlich dafür sorgt, dass Deutschlan­d den digitalen Irrweg der Störerhaft­ung verlässt. Lang genug hat es gedauert. Bislang hat die Bundesrepu­blik bei öffentlich­en WLan-Netzen weitgehend hinter dem Mond gelebt. Nun wird das frei zugänglich­e drahtlose Internet für alle hoffentlic­h möglich.

Offene Netze bedeuten ökonomisch­en Gewinn und demokratis­che Teilhabe. Die Störerhaft­ung, wonach ein Anschlussi­nhaber eines Internetzu­gangs – Hotels, Cafés, Privatpers­onen – haftet, wenn andere über dessen Anschluss Rechtsverl­etzungen begehen, hat hingegen das Gegenteil bewirkt. Sie hat ausgegrenz­t und blockiert. In Deutschlan­d gibt es deshalb kaum frei zugänglich­e Hotspots. Gerade aus Angst vor der mächtigen Urheberlob­by und der immer noch zu wenig regulierte­n Abmahnindu­strie. Und in jedem Mehrfamili­enhaus hat fast jeder seinen eigenen Router, anstatt einige wenige kostenspar­end zu teilen.

Jetzt könnte Deutschlan­d insbesonde­re in den Städten und den touristisc­hen Regionen tatsächlic­h den dringend notwendige­n, digitalen Schub erleben. Besser spät, als nie.

dass Anbieter eines Wlans in Bars oder Hotels eben nicht zur Rechenscha­ft gezogen werden könnten, wenn ihre Kunden illegal Dateien herunterla­den. Nomalerwei­se folge das EuGH den Weisungen des Generalanw­alts. „Und so wäre das deutsche Telemedien­gesetz wohl sofort kassiert worden“, vermutet Augustin.

Und wie geht es nun weiter? Schon in der nächsten Sitzungswo­che sollen die Änderungsa­nträge im Parlament beschlosse­n werden. Das Gesetz könnte damit bereits ab Herbst in Kraft treten. „Und dann werden auch wir Piraten jubeln“, verspricht der Saarländer Augustin.

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FOTO: FOTOLIA
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