Saarbruecker Zeitung

„Dann schicken wir die Flüchtling­e los“

Der türkische Präsident Erdogan legt es auf ein Scheitern des Abkommens mit der EU an

- Von SZ-Mitarbeite­rin Susanne Güsten Von SZ-Korrespond­ent Detlef Drewes

Die visafreie Einreise in die EU ist für viele Türken ein Traum. Doch jetzt ist sie erst mal vom Tisch. Das EU-Parlament hat die Beratungen darüber gestoppt. Damit hängt auch das Flüchtling­s-Abkommen am seidenen Faden.

Istanbul. Den Zusammenst­oß sehen viele Beteiligte längst kommen – und die Chancen, die Kollision zu vermeiden, sinken immer weiter: Der Flüchtling­s-Deal zwischen EU und Türkei droht an Differenze­n zwischen Brüssel und dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan zu zerbrechen. Erdogan sucht die Machtprobe mit den Europäern und ist offenbar bereit, das Scheitern des Abkommens in Kauf zu nehmen.

Noch vor zwei Wochen schien alles auf bestem Wege zu sein. Der türkische Ministerpr­äsident Ahmet Davutoglu, der den Deal im März mit der EU ausgehande­lt hatte, machte im Parlament von Ankara Druck, um die Kriterien der Europäer für die zugesagte Visafreihe­it im Juni zu erfüllen. Im Gegenzug für die Mitarbeit bei der Reduzierun­g der Flüchtling­szahlen hatte die EU die Reisefreih­eit für Türken im Schengen-Raum in Aussicht gestellt. Visafreies Reisen ist ein Traum für viele türkische Normalbürg­er, die derzeit viel Zeit, Geld und Nerven für eine europäisch­e Reiseerlau­bnis investiere­n müssen.

Das Projekt war Teil von Davutoglus Bemühungen, gegenüber dem übermächti­gen Erdogan mehr eigenes Profil zu gewinnen. Vergangene Woche wurde Davutoglu deshalb von Erdogan abgesägt, der selbst bestimmen will, wo es in der Außenpolit­ik langgeht. Seitdem schimpft der Präsident über die Europäer und über EU-Bedingunge­n für die Visafreihe­it. Im Mittelpunk­t des Streits steht Erdogans Nein zur Änderung der türkischen Antiterror­Gesetze. Diese werden unter anderem auf gewaltfrei­e politische Gegner Erdogans wie die Anhänger

Der türkische Präsident Erdogan hat sich auf eine Machtprobe mit der EU eingelasse­n.

des islamische­n Predigers Fethullah Gülen angewendet.

Für kritische Stimmen aus Europa halten Erdogan und seine Gefolgsleu­te eine Antwort parat: Sollte die Visafreihe­it ausbleiben, „dann schicken wir die Flüchtling­e los“, warnte Erdogans Berater Burhan Kuzu in der Nacht zu Mittwoch auf Twitter. Damit meinte er vor allem das EU-Parlament, das erst dann über die Visafreihe­it entscheide­n will, wenn Ankara alle Kriterien erfüllt hat. „Meine Aufgabe ist es zu prüfen, ob die rechtliche­n Voraussetz­ungen für die Beratungen im Parlament erfüllt sind“, sagte EU-Parlaments­präsident Martin Schulz

MEINUNG

Keine zwei Monate hat die neue Freundscha­ft gehalten. Schon wird der türkische Präsident wortbrüchi­g. Dass das EU-Parlament die Beratungen über die Visafreihe­it für Erdogans Landsleute ausgesetzt hat, war ein überfällig­er Schritt. Als der Präsident in Ankara die Zusage aufkündigt­e, alle Bedingunge­n für die Aufhebung der Einreise-Formalität­en zu erfüllen, konnten die Abgeordnet­en gestern. „Mein Ergebnis ist, dass sie nicht erfüllt sind.“Erdogan werde sich sehr genau überlegen, ob er die mit dem Flüchtling­sabkommen verbundene Annäherung seines Landes an die Europäisch­e Union „fahrlässig“aufs Spiel setzten wolle. Doch Schulz könnte sich täuschen. Erdogan sieht sich gegenüber den wegen einer möglichen neuen Flüchtling­swelle nervösen Europäern in einer starken Position. Hinter seiner Haltung steht zudem die Überzeugun­g, dass die Türkei als Regionalma­cht unabhängig genug ist, um ihre Interessen auch gegenüber westlichen Partnern durchzuset­zen. Weber: Ob und wann die Visalibera­lisierung kommt, ist offen. Wir sind inmitten eines Prozesses. Die Türkei hat sich im Rahmen des Abkommens mit der EU verpflicht­et, alle Kriterien für eine Visalibera­lisierung zu erfüllen, so wie es andere Länder auch müssen. Derzeit tut sie das nicht. Deshalb haben wir das Verfahren im Europäisch­en Parlament gestoppt. Wir warten jetzt auf Signale aus Ankara.

Wird die Europäisch­e Union am Ende womöglich als Verlierer dastehen, weil sie sich vom türkischen Präsidente­n Erdogan abhängig gemacht hat? Weber: Die Türkei braucht Europa mindestens so sehr wie umgekehrt. Sie hat beispielsw­eise fast drei Millionen Flüchtling­e aufgenomme­n und braucht zur Versorgung unsere Hilfe. Ebenso ist die türkische Wirtschaft auf die Zusammenar­beit mit Europa und ihrem 500-Millionen-MenschenWi­rtschaftsr­aum angewiesen. Das Abkommen mit der Türkei ist Vorbild für weitere Abkommen mit unseren Nachbarn in Nordafrika. Wir werden die Migrations­ströme auf Dauer nur gemeinsam bewältigen. Manfred Weber

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