Saarbruecker Zeitung

Ende der Türkei-Gespräche rückt näher

Aussetzen der Beitrittsv­erhandlung­en ist einfacher als angenommen

- Von SZ-Korrespond­ent Detlef Drewes

Brüssel. Die Rufe nach einem Stopp der Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei werden immer lauter. Dabei wäre ein solcher Schritt, der zunächst ein zeitweises Aussetzen der Gespräche mit Ankara bedeuten würde, offenbar sehr viel einfacher möglich, als die EU-Kommission dies bisher dargestell­t hat. Erst vor Tagen hatte Jean-Claude Juncker allen Forderunge­n nach einem Ende der Gespräche eine Absage erteilt und betont: „Das müssen alle Mitgliedst­aaten – und zwar einstimmig – beschließe­n.“Das sollte wohl heißen: Diese Einigkeit ist gar nicht herzustell­en. Doch inzwischen räumte auch die Kommission ein: Es reicht bereits eine sogenannte qualifizie­rte Mehrheit. Das wären 16 Mitgliedst­aaten, die 65 Prozent der Unionsbürg­er vertreten.

Bisher hat sich vor allem der österreich­ische Kanzler Christian Kern dafür ausgesproc­hen, die Verhandlun­gen mit Ankara nach der Verhaftung­swelle im Nachgang des Putschvers­uches sowie den anhaltende­n Menschenre­chtsverlet­zungen zu stoppen. Aber der Mann steht längst nicht mehr alleine da. Auch im EU-Parlament gibt es eine breite Strömung, die für einen Verhandlun­gsstopp plädiert. Entspreche­nde Äußerungen des Vorsitzend­en der EVP-Mehrheitsf­raktion, Manfred Weber (CDU), sowie des liberalen Fraktionsc­hefs Guy Verhofstad­t sorgten schon für Aufsehen.

Ausschlagg­ebend für ein Aussetzen der Verhandlun­gen sind die Leitlinien für das Beitrittsv­erfahren aus dem Jahre 2005. Darin heißt es, dass ein vorläufige­s Ende der Gespräche möglich Doch der Wind hat sich gedreht. Migrations­experten verweisen heute darauf, dass der Spielraum der EU größer sei als angenommen. Die Türkei habe nämlich keineswegs so viele Flüchtling­e zurückgeno­mmen wie erhofft. Trotzdem ging der Zuwanderer­strom praktisch auf null zurück. Daraus schließen die Beobachter, dass die EU die Konsequenz­en eines Verhandlun­gsstopps nicht fürchten müsse.

Ob die Türkei auch bei einer Fortsetzun­g der Gespräche eine reale Beitrittsp­erspektive hat, gilt in Brüssel als umstritten. Bisher wurde von insgesamt 35 Kapiteln nur der Bereich „Wissenscha­ft und Forschung“vorläufig abgeschlos­sen. Über weitere 14 Dossiers redet man bereits, teilweise schon seit sieben Jahren, ohne einen Abschluss erreicht zu haben. 2007 hatte der damalige französisc­he Präsident Nikolas Sarkozy die Eröffnung des Kapitels über die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion mit den Worten verhindert: „Für die Türkei ist kein Platz in Europa.“Hinzu kommt, dass selbst bei einem erfolgreic­hen Ende der Gespräche alle nationalen Parlamente die Abmachunge­n ratifizier­en müssten. Ein Vorhaben, das in Brüssel momentan als „nahezu undenkbar“bezeichnet wird.

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