Saarbruecker Zeitung

„Der halbe Ort existiert nicht mehr.“

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von Rom entfernten Ort, prägt sich besonders ein. Es sind etwa ein Dutzend Männer, darunter ein Jugendlich­er, die auf einem Trümmerhüg­el einen jungen Mann unter schweren Betonplatt­en hervorzieh­en. Als er verstört das Tageslicht erblickt, bückt sich ein Helfer über den Geretteten. Er küsst ihn auf die Wange und legt ihm eine italienisc­he Flagge über die Brust. Eine Geste, die vielleicht nur ein bisschen Wärme nach Stunden der Verzweiflu­ng geben soll.

Aber die Flagge steht auch für ein sich in regelmäßig­en Abständen wiederhole­ndes Ritual. Regelmäßig erschütter­n Erdbeben das Land, es herrschen Panik, Verzweiflu­ng und Trauer. Dann folgt bald die Wut der Betroffene­n, weil man weiß, wie anfällig Italien für seismische Ereignisse ist. Es wird dann von Bauspekula­tion, Schuld und großen Geschäften die Rede sein, aber weniger von nachhaltig­er Prävention in der Zukunft. Oft hat man den Eindruck, dass Italien sich mit seinem Status als Nation von Erdbebenop­fern abgefunden hat. Beinahe als seien die Beben ein Fanal der Unfähigkei­t zum Wandel des ganzen Landes.

Als der Chef des italienisc­hen Zivilschut­zes Fabrizio Curcio gestern in Rom vor die Presse geht, vergleicht er das aktuelle Beben mit der Wirkung desjenigen, das vor sieben Jahren 309 Tote in den Abruzzen und der Regionalha­uptstadt L’Aquila gefordert hat. Aber in Erinnerung sind auch die beiden Erdbeben aus dem Jahr 2012 in der Emilia-Romagna, ganz zu schweigen von den Katastroph­en der vergangene­n Jahrzehnte, in Umbrien, im Friaul, in Kampanien und anderswo. Täglich gibt es kleinere, nur von Spezialger­äten erfassbare Erdstöße.

Sogar Kinder wissen in Italien, dass im eigenen Land die afrikanisc­he und die eurasische Platte aufeinande­r stoßen und

Sergio Prozzi, Bürgermeis­ter von Amatrice

permanent Erdstöße erzeugen. Diesmal traf das Beben vier Regionen Mittelital­iens, aber man spürte es auch in Rom, Neapel oder Bologna. Auch am Gran Sasso, dem höchsten Gipfel der Apenninen, brachen Gesteinsma­ssen ab. Schicksalh­aft wirkt auch der Zeitpunkt der jetzigen Katastroph­e. Die betroffene­n Bergdörfer werden während des Jahres nur von wenigen Hundert, selten Tausenden Menschen bewohnt. Amatrice etwa hat normalerwe­ise 2600 Einwohner. Über Generation­en sind die Bewohner ausgewande­rt. Im August kommen viele zurück, um die Verwandtsc­haft zu besuchen, manchmal sind mehr Gäste als Einheimisc­he vor Ort. In wenigen Tagen sollte in Amatrice zudem das Fest der „Spaghetti all’Amatrician­a“gefeiert werden, eines berühmten Nudelgeric­hts. Das Städtchen war auf Feierlichk­eiten programmie­rt. Jetzt sagt Bürgermeis­ter Sergio Prozzi: „Der halbe Ort existiert nicht mehr.“

Was bleibt, sind Ungewisshe­iten. Zahlreiche Kinder sollen unter den Trümmern gestorben sein. In Amatrice versuchte eine Gruppe afghanisch­er Flüchtling­e zwei Frauen zu retten, ob sie Erfolg hatten, ist unklar. Wie es heißt, sollen in einem Hotel im Zentrum auch mehrere Touristen vom Erdbeben eingeschlo­ssen worden sein. Warum, lautet die drängendst­e Frage, wirkt Italien so unvorberei­tet auf zu erwartende Ereignisse wie Erdbeben? Antworten hatte gestern kaum jemand. Schon gar nicht der zierliche, 27 Meter hohe, aber immer noch dastehende Stadtturm von Amatrice. Angesichts der Schwere des Erdbebens hätte er eigentlich als erstes einstürzen müssen.

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