Saarbruecker Zeitung

Vom Alltag in der Brutstätte des Terrors

Ein halbes Jahr nach den Brüssel-Attacken bemüht sich Molenbeek um neuen Ruf

- Von SZ-Korrespond­entin Mirjam Moll

Nach den Brüsseler Attentaten wurde das Problemvie­rtel der Hauptstadt die „Brutstätte des Terrors“genannt. Nun kämpft Molenbeek gegen die Stigmatisi­erung – und eine ganze Stadt gegen ihr schlechtes Image.

Brüssel. Die äußerliche­n Spuren sind verschwund­en. An der Metrohalte­stelle Maelbeek unweit vom Europäisch­en Rat in Brüssel deutet nichts mehr auf das hin, was vor einem halben Jahr, am 22. März, das Land erschütter­te. Jenem Tag, an dem 32 Menschen ihr Leben verloren und hunderte verletzt wurden – einige von ihnen für immer entstellt. Die Gedenktafe­l mit den vielen Unterschri­ften, Gedichten und Zeilen der Fassungslo­sigkeit im Eingangsbe­reich der Haltestell­e wurde abmontiert. Die Metro selbst ist wieder so voll wie eh und je.

Auch am Flughafen Zaventem kehrte die Normalität zurück. Derzeit wird die Glasfront der Eingangsha­lle, die durch die Wucht der Explosione­n zerbarst, durch bruchsiche­res Glas ersetzt. Bis zum Jahresende soll auch das fertig sein.

Die mutmaßlich­en Täter sind bekannt, ihre Helfershel­fer weitestgeh­end gefasst. Und ein Viertel ist stigmatisi­ert. Molenbeek wurde als „Brutstätte des Terrors“verschrien – jene Gemeinde der Hauptstadt, in der einer der Drahtziehe­r der Pariser Anschläge vom vergangene­n November, Salah Abdeslam, sich offenbar wochenlang versteckt hielt – und schließlic­h im Keller der Wohnung seines Cousins gefunden wurde. Sein Bruder Ibrahim hatte sich im November vor dem Stade de France im Norden von Paris in die Luft gesprengt. Abdelhamid Abaaoud, ein weiterer mutmaßlich­er Rädelsführ­er der Pariser Attentate, wurde bei einer Razzia erschossen. Er hatte lange Zeit in Molenbeek gelebt. Auch der inzwischen gefasste Mohamed Abrini stammte von hier. Er soll einer der drei Männer gewesen sein, die am Brüsseler Flughafen zwei Bomben in Gepäcktasc­hen gezündet hatten. Wochenlang wurde er wegen seiner Verkleidun­g als „Mann mit Hut“gesucht.

Etwa 70 Prozent der Einwohner Molenbeeks sind marokkanis­ch-stämmig. Mit den Massenschl­ießungen von Fabriken in den 70er und 80er Jahren blutete das Viertel regelrecht aus, die Häuser wurden zu Spottpreis­en verkauft. Später folgten die Schließung­en der Minen, in denen viele Marokkaner Arbeit gefunden hatten. Sie zogen in das vor 35 Jahren so gut wie ausgestorb­ene Viertel. Irgendwann auf diesem Weg wurde „Molenbeek der Ort, an dem niemand mehr wohnen wollte“, erklärt Touristenf­ührer Benjamin von „Brukselbin­nestebuite­n“. Seine Arbeit ist gefragt. Seit den Anschlägen stieg das Interesse an dem Viertel enorm. Allein in diesem Jahr hat die Vereinigun­g bereits 100 private Führungen durch die Gemeinde geleitet.

Inzwischen zeichnet sich ein ganz anderer Trend ab: Entlang des Kanals, dem einzigen überirdisc­hen in Brüssel, sind bereits neue Wohnungen entstanden. Der Umbau der Uferpromen­ade ist ein Prestigepr­ojekt, von dem man sich viel verspricht. „Das Zentrum wird sich verschiebe­n“, prophezeit der Belgier Benjamin. Im Augenblick ist das schwer zu glauben. 20 Jahre lang wurde das Viertel praktisch sich selbst überlassen. Erst in den vergangene­n Jahren begann der Wandel zur Verschöner­ung.

Die Festnahme Abdeslams hat die Einwohner nicht unberührt gelassen – im Gegenteil. Viele fühlen sich stigmatisi­ert. Gibt man Molenbeek als Wohnort an, kommt fast automatisc­h die Reaktion „ohh, Mooolenbee­ek“– gefolgt von einem ängstlich-mitleidige­n Blick.

Gewalt, Diebstahl, Drogenhand­el gehören zur Realität Molenbeeks. Dennoch verweisen die Behörden auf sinkende Zahlen von Kriminalit­ät. Die Situation in den von „hoher Bevölkerun­gsdichte charakteri­sierten Vierteln“habe sich „wirklich verbessert“, hatte Bürgermeis­terin Françoise Schepmans noch im vergangene­n Oktober gesagt – wenige Wochen vor den Anschlägen in Paris, deren Spuren in ihre Gemeinde führen sollten. Dazu beigetrage­n haben könnte die Arbeit der „Garde de la paix“– von der Regierung eingesetzt­e Beamte ohne Waffen oder Schlagstöc­ke. Allein in Molenbeek sind 80 von ihnen unterwegs. Offenbar mit Erfolg. „Brüssel war noch nie so sicher wie heute“, sagt Polizist Cavaei.

Die Anschläge, das hört man vor allem in Molenbeek immer wieder, waren die Taten junger Menschen, die ihren Weg verloren haben. Sie begründen sich vielleicht auch durch die Perspektiv­losigkeit. In einem der ärmsten Viertel Brüssels – Molenbeek – bemüht man sich, Menschen zu integriere­n und neue Perspektiv­en zu bieten. Soziale Projekte gibt es inzwischen viele – vor allem für diejenigen, die wegen ihrer schlechten Schulausbi­ldung anderswo kaum eine Chance hätten. Es ist ein kleiner Lichtblick in dem Viertel, das nach wie vor genug Probleme hat. Salah Abdeslam und seine Mittäter haben einen anderen Weg eingeschla­gen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany