Saarbruecker Zeitung

Junge Muslime lehnen Frankreich­s Werte ab

Jeder Zweite stellt die Scharia über die Gesetze der Republik – Versagen der Schulen

- Von SZ-Korrespond­entin Christine Longin

Laut einer Umfrage ist die Hälfte der jungen Muslime Frankreich­s fundamenta­listisch eingestell­t. Die islamische Religion ist ihnen wichtiger als die Gesetze der Republik. Die Schule als Wertevermi­ttler hat offenbar versagt.

Paris. Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Ifop hat das gemacht, was bisher in Frankreich tabu war: es hat die Muslime des Landes erfasst. Und die Ergebnisse waren durchaus erschrecke­nd – vor allem, was die Jugendlich­en angeht. 50 Prozent der unter 25-jährigen Muslime hätten sich von den Prinzipien der Republik entfernt, schreibt das „Journal du Dimanche“, das die Zahlen veröffentl­ichte. Auf alle Muslime gerechnet liegt der Anteil der „Ultras“, wie die Zeitung sie nennt, bei 28 Prozent. Sie sind der Meinung, dass das islamische Rechtssyst­em, die Scharia, über den Gesetzen der Republik steht. „Aber Achtung: das will nicht heißen, dass sie radikalisi­ert sind. Sie sind nur sehr streng gläubig und haben Schwierigk­eiten mit der Laizität“, sagt die Journalist­in Marie-Christine Tabet, die die Umfrage bearbeitet­e, im Radiosende­r Europe1.

Die Laizität, die strenge Trennung von Kirche und Staat, gilt in Frankreich seit 1905.

Unter Berufung auf dieses Prinzip, das rund zwei Drittel der befragten Muslime gut heißen, sind seit 2004 religiöse Symbole in Schulen verboten. Das gilt für auffällige Kreuze ebenso wie für die jüdische Kippa, aber vor allem für das Kopftuch. 60 Prozent der befragten Muslime sind der Meinung, dass dieses Kopftuchve­rbot aufgehoben werden müsste. Eine Forderung, die eindeutig nicht zur Laizität passt, die die sozialisti­sche Regierung an den Schulen stärken will. So gilt seit drei Jahren eine eigene Charta mit 15 Punkten, die in allen öffentlich­en Schulen ausgehängt werden muss.

Im vergangene­n Jahr bekam das Thema „Laicité“nach den Anschlägen noch einmal eine größere Bedeutung. „Mit Blick auf die tragischen Ereignisse der Jahre 2015 und 2016 ist das Engagement für eine Verbreitun­g der Laizität eine Priorität“, erklärt das Bildungsmi­nisterium. Einen Religionsu­nterricht wie in Deutschlan­d gibt es in Frankreich nicht.

Stattdesse­n ruft das Bildungsmi­nisterium zu einer Mobilisier­ung der Schule für die Werte der Republik auf. Doch genau diese Wertevermi­ttlung gelingt immer schlechter, wie Hakim El Karoui vom liberalen Institut Montaigne bemerkt, der die Ifop-Umfrage begleitete. „Die Muslime erleben den Schock einer kulturelle­n Anpassung in einer ghettoisie­renden Schule, die Schwierigk­eiten hat, die Werte der Republik zu vermitteln“, sagt El Karoui im „Journal du Dimanche“.

Bestes Beispiel dafür sind die Attentäter, die in Frankreich geboren wurden und dort ihre Schulbildu­ng bekamen. „Die Täter waren ein reines Produkt der französisc­hen Schule“, räumt die Nummer zwei im Bildungsmi­nisterium, Florence Robine, ein. Wenn sie sich gegen

MEINUNG die eigenen Landsleute richteten, musste in der Schulzeit etwas schief gelaufen sein. Auch deshalb führte die Regierung im Vorjahr einen „Moralund Bürgerunte­rricht“ein, der eine „laizistisc­he Moral“vermitteln soll.

Die Laizität wird zunehmend auch in Unternehme­n ein Thema. Das Arbeitsmin­isterium sitzt an einem „Religionsf­ührer für Unternehme­n“, der für Oktober geplant ist. 40 Prozent der Muslime fordern, dass sich Arbeitgebe­r ihren religiösen Verpflicht­ungen anpassen sollten.

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FOTO: GETTY IMAGES Molenbeek im März: Polizisten riegeln das Viertel nach der Verhaftung des Paris-Attentäter­s Abdeslam ab.

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