Saarbruecker Zeitung

Anpacken gegen den Niedergang

Was tun gegen die Verödung des ländlichen Raums? Eine Bestandsau­fnahme des „deutschen Dorfpapste­s“.

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SAARBRÜCKE­N Gerhard Henkel, emeritiert­er Professor für Humangeogr­afie, hat das Sterben der Dörfer untersucht und plädiert für mehr lokale Demokratie als Gegenmaßna­hme. Am Donnerstag hält er einen Vortrag in Homburg.

Es gibt in Deutschlan­d etwa 35 000 Dörfer: ländlich geprägte Ortschafte­n mit weniger als 10 000 Einwohnern. Viele davon leiden unter Leerstand. Verursacht durch die Demographi­e, Verstädter­ungstenden­zen und den Teufelskre­is aus wegbrechen­der Infrastruk­tur und Abwanderun­g. Ist das schleichen­de Dorfsterbe­n unterschät­zt worden? Henkel Ja. Auch wenn der Verlust der Infrastruk­turen in den Dörfern bereits in den 60er und 70er Jahren angefangen hat. Schon damals hatten wir dort Leerstand. Danach beruhigte sich die Lage, ungefähr bis zum Jahr 2000. Danach hat sie eine neue Dramatik bekommen. Nicht zuletzt durch die großen Abwanderun­gen der jungen Generation. Wobei es, was die Auswirkung­en dieser Landflucht angeht, regional große Unterschie­de gibt.

Dorferhalt­ung verlangt Dorfleben verlangt Gemeinsinn. Ohne soziale Verantwort­ung wird sich der Niedergang vieler Gemeinden nicht aufhalten lassen. In Ihrem Buch „Rettet das Dorf!“nennen Sie ermutigend­e Beispiele. Die aber bleiben die Ausnahmen. Wo soll der Gemeinsinn herkommen?

Henkel Der Gemeinsinn hat auf dem Land immer noch Gewicht. Und seit dem Mittelalte­r Tradition, als man sich organisier­t hat in Schützenve­reinen, Feuerwehre­n oder Genossensc­haften. Wobei sich das Dorf im Zuge der Moderne, durch die Individual­isierung und Mobilität der Gesellscha­ft, verändert hat. Bestes Beispiel ist, dass ein Großteil der Dorfbewohn­er tagsüber gar nicht dort lebt.

Einerseits betreiben abgehetzte Städter eine Verklärung des Dorflebens und wägen das Ruhe- und Raum-Potenzial gegen Fahraufwan­d und spärliche Angebote ab. Anderersei­ts ist für Jugendlich­e die Stadt der große Sehnsuchts­raumWie passt das zusammen?

Henkel Das Land hat eine gewisse Faszinatio­n behalten für viele. Es gibt eine Sehnsucht nach dem überschaub­aren ländlichen Leben. Anderersei­ts ziehen die Jungen weg. Jedoch aus anderen Motiven als in meiner Jugend. Damals war das Dorf eng und streng, es war ein Ort vieler Zeigefinge­r und sozialer Kontrolle. Heute ist das völlig anders. Die Dörfer sind liberaler und weltoffene­r geworden. Man entflieht weniger der Enge des Dorfes. Man verlässt es, weil man ein Ziel hat. Meistens ein Studium.

Lässt sich in ländlichen Regionen, wo die Nachbarsch­aftshilfe traditione­ll stärker ist, insoweit leichter mit der Überalteru­ng der Gesellscha­ft umgehen?

Henkel Jedenfalls entscheide­n sich, das belegen Umfragen, viele ältere Landbewohn­er, deren Angehörige weggezogen sind, für einen Verbleib. Sie möchten am angestammt­en Ort alt werden. Woraus man ableiten könnte, dass sie dort im Alter eher Hilfe erwarten. Es gibt umgekehrt auch einen gewissen Trend, dass eine bestimmte Altersgrup­pe – nämlich Ehepaare um die 55, 60 – in Peripherge­bieten wie etwa Brandenbur­g und Mecklenbur­g aufs Land zieht und sich ein preiswerte­s Haus mit schönem, größeren Grundstück kauft.

Vereine sind Motoren jedes Dorfes, ist eine der Kernthesen Ihres Buches. Doch viele stehen vor dem Ruin. Wie lässt sich dieser Erosion von Vereinsstr­ukturen begegnen? Henkel Ja, viele Vereine wackeln. Äußerlich und innerlich. Mitglieder­zahlen schwinden. Und keiner will den Vorstand machen. Teilweise erkennen die Landkommun­en diese Defizite und geben Vereinen rechtliche und organisato­rische Hilfestell­ungen. Weil die Kommunalpo­litik erkennt, wie massiv das Vereinsste­rben die Attraktivi­tät des Landlebens mindern würde.

Seit zehn bis 15 Jahren beobachten Sie in Deutschlan­d einen Gründungsb­oom: die Entstehung von Bürgervere­inen. Selbsthilf­e-Initiative­n, die als lokale Infrastruk­turFeuerwe­hr wirken: Man kümmert sich um Ältere, um die Anlage eines Spielplatz­es oder die Organisati­on von Dorfjubilä­en. Faktisch läuft das auf die Privatisie­rung von Gemeindeau­fgaben hinaus. Ist das, was Sie als vorbildlic­h rühmen, nicht eine zweischnei­dige Sache? Henkel Die Frage ist berechtigt. Diese Bürgervere­ine sind aber in erster Linie eine Reaktion auf einen von der Politik im Zuge der Gebietsref­ormen verursacht­en Verlust an dörflicher Selbstbest­immung. Sprich von Bürgermeis­tern und Gemeinderä­ten. Durch Eingemeind­ungen ist gut die Hälfte der Dörfer in Deutschlan­d aufgelöst worden. Damit hat man ihnen ihr Kraftzentr­um genommen. Diese Dörfer leiden bis heute unter dieser Traumatisi­erung. Auch im Saarland. Die Bürgervere­ine versuchen, diese Verluste abzufedern.

Heute sehen wir eine Degradieru­ng der Gemeinden. Die Spielräume für investive Maßnahmen sind meist minimal; Weichenste­llungen werden auf Landeseben­e getroffen. Auch knebelt die Kommunalau­fsicht viele Gemeinden. Ist das die politische Wirklichke­it auf dem Land?

Henkel Absolut. Im Saarland gibt es ja seit der Gebietsref­orm nur noch Großgemein­den. Wenn Sie so wollen, ist das Dorfleben doppelt geschädigt worden. Indem die dörfliche Selbstvera­ntwortung aufgelöst und den verblieben­en Kommunen staatliche­rseits Spielräume genommen worden sind. Die Dörfer spüren die Entmündigu­ng durch die staatliche Politik.

Welche politische Lehre wäre daraus zu ziehen? Dezentrali­sierung? Henkel Unbedingt. Die Demokratie muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Demokratie ist da, wo Leute sich engagieren und anpacken. Das lässt sich am besten in kleinen Einheiten üben und praktizier­en.

Viele Ortskerne veröden. Der Einzelhand­el stirbt, Wirtshäuse­r schließen. Es gibt immer weniger Orte, die als Sozialbörs­en fungieren können. Wie sollen solche Orte revitalisi­ert werden?

Henkel Die Ortskerne prägen das Gesicht des Ortes. Wenn sie veröden, ist das tödlich. Oft merkt man es erst, wenn diese Treffpunkt­e verschwind­en. Ein Ort, der keinen lebendigen Mittelpunk­t mehr hat, muss sich etwas einfallen lassen. Leider herrscht da vielerorts inzwischen Resignatio­n. Aber es gibt genug Dörfer, wo die Bürger anpacken und im Dorfzentru­m einen neuen Treffpunkt einrichten.

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FOTO: OLIVER DIETZE Anhaltende­r Leerstand ist heute das alarmieren­dste Warnzeiche­n für den schleichen­den Verfall von Ortschafte­n.

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