Im VW-Krimi kämpft jetzt jeder gegen jeden
Die Suche nach Schuldigen im Skandal um manipulierte Abgaswerte entwickelt sich immer mehr zur Schlammschlacht.
WOLFSBURG (dpa) Es ist ein ungeheurer Verdacht, der bisher eher ins Reich der Verschwörungstheorien als zur juristischen Aufarbeitung des VW-Abgas-Skandals zu passen schien. Hatte der innerste Zirkel des Aufsichtsrats schon früh Hinweise auf die Diesel-Manipulationen, die im September 2015 die schwerste Krise in der Konzerngeschichte auslösen sollten? Und ließ Auto-Patriarch Ferdinand Piëch den zuvor unantastbaren Vorstandschef Martin Winterkorn deshalb fallen, weil dieser womöglich Bescheid wusste?
Solche Spekulationen erhalten nun neue Nahrung – zumal VW gerade erst zentrale Kapitel der Spurensuche für beendet erklärt hatte. „Bild“und „Bams“meldeten, Piëch habe bei Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig zur Entstehung der millionenfach gefälschten Abgaswerte nicht nur seinen Ex-Ziehsohn Winterkorn, sondern auch einige engste Mitaufseher schwer belastet. Sollte dies stimmen, bekäme die Affäre eine noch größere Dimension.
Noch ist die Gefechtslage verworren. Auffällig jedoch an den Dementis der Kontrolleure: Die prompten, für VW-Verhältnisse ziemlich scharfen Rechtfertigungen haben teils einen nervös-empörten Ton. „Sämtliche betroffene Mitglieder des Aufsichtsratspräsidiums (haben) unabhängig voneinander alle Behauptungen von Ferdinand Piëch nachdrücklich als falsch zurückgewiesen“, erwiderte der Sprecher des heutigen Chefaufsehers Hans Dieter Pötsch. Und: „Der Vorstand wird mögliche Maßnahmen und Ansprüche gegen Herrn Piëch sorgfältig prüfen.“
Der frühere VW-Aufsichtsratschef soll Staatsanwälten gesagt haben, man habe ihm im Februar 2015 Informationen zum AbgasProblem über eine Sicherheitsfirma aus Israel zugespielt – worauf er Winterkorn und danach auch den Kern des Aufsichtsrats ins Vertrauen gezogen habe.
Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe war hierzu am Donnerstag nicht zu erreichen. Er hatte kürzlich mit Blick auf die Prüfungen gegen Winterkorn, VWMarkenchef Herbert Diess und den aktuellen Aufsichtsratschef Pötsch zu möglicher Marktmanipulation klargemacht: „Der Prozess ist nicht abgeschlossen. Fast ein Dutzend Staatsanwälte bearbeiten mehr oder weniger ausschließlich die VW-Verfahren.“Inzwischen wird auch wegen Betrugsverdachts gegen Winterkorn ermittelt. Unabhängig davon, was Piëch umtreibt: Die Beschuldigungen und das Taktieren hinter den Kulissen entwickeln sich immer mehr zu einer Schlammschlacht um die Deutung der damaligen Ereignisse. Unter Druck gerät dabei auch Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Er warf Piëch gestern im Gegenzug „Fake News“vor – und blieb bei der Darstellung, erst am 19. September 2015 über das Ausmaß der Schadstoff-Manipulationen unterrichtet worden zu sein. Derweil seien ihm Piëchs Anschuldigungen seit Monaten bekannt gewesen. „Ich hatte ehrlich gesagt die Hoffnung, dass Herr Piëch sich besinnt.“
Doch der dachte offenbar nicht daran. Aus Konzernkreisen ist zu hören, der „Alte“könnte persönliche Gründe für seine Attacke haben. Einen Machtkampf mit Winterkorn, über dessen Ursprung im Frühjahr 2015 die Autowelt rätselte, verlor Piëch am Ende – vor allem, weil sich im entscheidenden Moment die mächtige Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat um Chef Bernd Osterloh, den einstigen IGMetall-Chef Berthold Huber und das Land Niedersachsen als Großaktionär gegen ihn stellten. Heute soll es kaum noch Kontakt zum 79Jährigen geben. Betrieb er letztlich die Demontage Winterkorns in einer Mischung aus Rachefeldzug und Empörung über „Dieselgate“?
Bei Hauptversammlungen der Porsche-Holding und VW-Haupteignerin PSE ließ sich Piëch zuletzt entschuldigen. Er zog sich generell zurück. Die angebliche Aussage in Braunschweig kritisierten auch Osterloh und Huber: „Diese Behauptung ist unwahr.“
Beschäftigte und Anteilseigner von VW dürfte aber auch ein weiterer Punkt interessieren. Wenn Piëch nach eigener Darstellung denn Böses wusste oder ahnte – warum zog er dann nur andere zu Rate und ergriff nicht selbst die Initiative zur Aufklärung? Ulrich Hocker, Präsident der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), sieht hier viele Fragezeichen: „Ich habe mich immer schon gewundert, warum Piëch plötzlich ,auf Distanz’ zum großen Freund Winterkorn ging.“
Auch parlamentarisch geht die Suche nach der Wahrheit weiter. Am kommenden Donnerstag wird Ministerpräsident Weil im AbgasUntersuchungsausschuss des Bundestags erwartet. Dort hatte Winterkorn vor kurzem bekräftigt, erst im September 2015 von den illegalen Abgastests in den USA erfahren zu haben. Linke und Grüne gehen schon einen Schritt weiter. Sie beantragten, demnächst vor allem eine zentrale Figur vorzuladen: Ferdinand Piëch.