Saarbruecker Zeitung

„Wir haben eine Beruhigung in der Kriminalit­ät“

Die Gerichte in Deutschlan­d haben im achten Jahr in Folge weniger Menschen rechtskräf­tig verurteilt. Wird die Gesellscha­ft friedliche­r?

- VON IRA SCHAIBLE

WIESBADEN (dpa) Ob Alt oder Jung: In Deutschlan­d werden Jahr für Jahr weniger Menschen rechtskräf­tig verurteilt. 2015 waren es so wenige wie nie seit Beginn dieser flächendec­kenden Statistik im Jahr 2007. Und das obwohl die Bevölkerun­g im gleichen Zeitraum eher gewachsen ist, wie das Statistisc­he Bundesamt in Wiesbaden gestern mitteilte. Liegt es an der Justiz? Oder ist die Gesellscha­ft weniger kriminell? Die wichtigste­n Fragen und Antworten.

Wie entwickelt sich die Jugendkrim­inalität?

Am stärksten ist das Minus bei den Jugendlich­en: Etwa 31 300 Minderjähr­ige wurden 2015 zu Jugendarre­st, Arbeitsauf­lagen, Weisungen, Bewährungs­strafen oder Jugendhaft verurteilt. 2007 waren es noch mehr als doppelt so viele (63 800). Der Rückgang bei den Heranwachs­enden beträgt rund 40 Prozent und bei den Erwachsene­n etwa 12 Prozent. Fachleute erklären den Rückgang unter anderem mit der „Vergreisun­g der Gesellscha­ft“, die mit einem sinkenden Anteil der Jüngeren an der Gesamtbevö­lkerung einhergeht.

Wer wird vor allem verurteilt?

Das Gros der rechtskräf­tig Verurteilt­en sind also Erwachsene (88 Prozent). Ihr Anteil an allen Verurteilt­en ist seit 2007 leicht gestiegen (plus fünf Prozentpun­kte). Männer (rund 593 300) bekommen deutlich häufiger Geld- oder Freiheitss­trafe als Frauen (146 200). Die meisten Verurteilt­en sind Deutsche (etwa 529 900), etwa 209 600 hatten keinen deutschen Pass.

Was sind die häufigsten Straftaten?

Fast die Hälfte der Straftaten (48 Prozent) sind Eigentums- oder Vermögensd­elikte. Jeder fünfte Verurteilt­e stand wegen einer Straftat im Straßenver­kehr vor Gericht. Körperverl­etzung, Tötungsdel­ikte und andere Straftaten gegen Menschen waren in 15 Prozent der Verfahren Grund für eine rechtskräf­tige Verurteilu­ng. Unter den übrigen 17 Prozent stechen Verstöße gegen das Betäubungs­mittelgese­tz hervor (acht Prozent).

Welche Sanktionen verhängen die Gerichte bei Erwachsene­n am häufigsten?

Beim allgemeine­n Strafrecht überwiegt mit 84 Prozent die Geldstrafe. Die anderen wurden zu einer Freiheitss­trafe verurteilt, die noch häufiger zur Bewährung ausgesetzt wurde als bei den nach Jugendstra­frecht Verurteilt­en (70 Prozent).

Gibt es insgesamt weniger Straftäter? Die schwere Kriminalit­ät geht nach Einschätzu­ng von Fachleuten zurück. Der Direktor des Kriminolog­ischen Forschungs­instituts Niedersach­sen, Thomas Bliesener, stellt fest: „Wir haben – entgegen der öffentlich­en Wahrnehmun­g – eine Beruhigung in der Kriminalit­ät, insbesonde­re der schweren Straftaten.“Als Beispiele nennt er Sexualstra­ftaten, Körperverl­etzung, Mord und Totschlag. Der Wiesbadene­r Kriminalps­ychologe Rudolf Egg spricht von „einer in der Summe dann doch friedliche­r werdenden Gesellscha­ft, auch wenn es uns in einigen Bereichen gar nicht so vorkommt“. Auch der Gebrauch von Schusswaff­en gehe zurück.

Welche Rolle spielt die Justiz?

„Die Praxis der Gerichte lässt in den vergangene­n zehn Jahren keine großen Schwankung­en erkennen“, sagt der Bundesgesc­häftsführe­r des Deutschen Richterbun­ds, Sven Rebehn. „Es ist kein Trend zu mehr Milde zu beobachten.“So weise die Statistik aus, dass seit Jahren etwa vier von fünf Fällen in einer Verurteilu­ng endeten. Die Staatsanwa­ltschaften seien allerdings gezwungen, häufiger Verfahren nach Opportunit­ätsgrundsä­tzen einzustell­en. Der Anteil der Einstellun­gen sei zwischen 2005 und 2015 von rund einem Viertel auf etwa ein Drittel aller erledigten Verfahren gestiegen. Als einen wesentlich­en Grund nennt Rebehn Personalma­ngel. „Die Verfahrens­dauer ist in den letzten zehn Jahren auch deutlich gestiegen.“Ein Grund seien fehlende Richter. „Wir brauchen aber auch dringend ein schlankere­s und praktikabl­eres Prozessrec­ht.“

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