Saarbruecker Zeitung

Große Gefühle und kleine Scharmütze­l

Steinmeier ist mit gutem Ergebnis gewählt worden. Jetzt muss er seine neue Rolle finden.

- VON HAGEN STRAUSS, WERNER KOLHOFF UND STEFAN VETTER Christian Lindner, FDP-Chef, über die Bundesvers­ammlung

BERLIN Oben auf der Tribüne sind große Gefühle zu beobachten. Mutter Ursula wischt sich die Tränen aus den Augen, „ich muss erst noch alles verkraften“, sagt die 87Jährige, als sie den Plenarsaal verlässt. Ehefrau Elke Büdenbende­r, neue First Lady, knetet aufgeregt die Finger, sie atmet tief durch, ihre Stimme zittert: „Ein unglaublic­her Tag. Ich bin noch ganz gerührt.“Der Sohn, der Mann ist soeben zum zwölften Bundespräs­identen der Bundesrepu­blik Deutschlan­d gewählt worden.

Frank-Walter Steinmeier hat 931 von 1239 gültigen Stimmen erhalten. Zu den ersten Gratulante­n gehört sein Vorgänger Joachim Gauck. Ihm dankt die 16. Bundesvers­ammlung zu Beginn mit stehenden Ovationen, nur die Linke und die AfD bleiben sitzen. Gauck verbeugt sich, er wirkt sichtlich bewegt. Ergriffenh­eit ist indes nichts, was man häufig bei Frank-Walter Steinmeier erleben wird. Als Bundestags­präsident Norbert Lammert das Ergebnis der Wahl um 14.15 Uhr verkündet, strahlt Steinmeier zwar über das ganze Gesicht, Noch-SPDChef Sigmar Gabriel fällt ihm um den Hals. Aber seine Emotionen hat der 61-Jährige im Griff. Kurz vorher hat Lammert Steinmeier in einem Raum im Ostteil des Reichstage­s aufgesucht, wo er auf das Resultat wartet. Alles glattgegan­gen, so Lammerts Botschaft.

Dem neuen Bundespräs­identen, der am 19. März das Amt offiziell übernimmt, fehlen freilich über 150 Stimmen, die er hätte bekommen müssen, wenn Union, SPD, Grüne und FDP geschlosse­n für ihn votiert hätten. Wo die meisten Abweichler stecken, sieht man beim Blick auf die hinteren Reihen der Unions-Fraktion. Als das Wahlergebn­is mitgeteilt wird und der Jubel aufbrandet, rührt sich dort keine Hand. Offenbar wirkt noch der Ärger darüber nach, dass es Angela Merkel nicht gelungen ist, einen vorzeigbar­en Christdemo­kraten zu finden, der zur Kandidatur bereit gewesen wäre. Noch verletzend­er ist womöglich Sigmar Gabriels Spruch in der SPD-Fraktionss­itzung, die Union habe sich „nicht getraut“, gegen Steinmeier einen eigenen Bewerber aufzustell­en. Als die Delegierte­n von CDU und CSU am Samstag zusammenko­mmen, ist der Unmut spürbar.

Während die Abstimmung läuft, streift der Ex-Außenminis­ter durch das Parlament, er wird geherzt, umarmt, gedrückt, viele wollen ein Selfie mit ihm machen. Auch CDUGeneral­sekretär Peter Tauber bittet um ein Foto – oder die Schauspiel­erin Veronica Ferres. Sie und Bundestrai­ner Jogi Löw müssen ihrerseits für viele Selfies bereitsteh­en. „Das hat hier etwas von einem Klassentre­ffen“, grinst FDP-Chef Christian Lindner. Jeder schwatzt mit jedem. Selbst die Travestiek­ünstlerin Olivia Jones mit orangener Perücke und kurzem türkisen Kleid nutzt die Gelegenhei­t zum angeregten Plausch mit Kanzlerin Angela Merkel, die farblich mit einem knallgelbe­n Blazer und schwarzer Hose dagegenhäl­t. Die Lobby des Bundestage­s gleicht einer großen Familienfe­ier.

Außen vor bleiben vor allem die Wahlleute der AfD. „Das wird sich alles noch normalisie­ren“, erklärt deren Vorsitzend­er Jörg Meuthen, der damit rechnet, dass seine Partei ab Herbst in Fraktionss­tärke im Bundestag sitzen wird. Bei der Eröffnungs­rede von Bundestags­präsident Norbert Lammert ruft Co-Chefin Frauke Petry mehrfach dazwischen. Kein Wunder – sein Thema ist das Erstarken der Nationalis­ten überall auf der Welt, auch in Deutschlan­d. Ohne den Namen direkt zu erwähnen, attackiert Lammert den amerikanis­chen Präsidente­n Donald Trump. Wer Abschottun­g anstelle von Weltoffenh­eit fordere und sich sprichwört­lich einmauere, und wer „Wir zuerst“zum Programm erkläre, dürfe sich nicht wundern, „wenn es ihm andere gleichtun“, betont Lammert. Alle Deutschen seien aufgerufen, Europa zu stärken. Bei diesen Worten stehen fast alle 1260 Versammelt­en auf und klatschen.

Überrasche­nd viele Stimmen kann der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e auf sich vereinen, den die Linken nominiert haben. 128 Stimmen erhält er. Präsident wird aber an diesem Tag nun mal Steinmeier. Er fordert in seiner kurzen Ansprache, wenn das Fundament der Demokratie bröckele, „müssen wir umso fester dazu stehen“. Und an seine „Landsleute“appelliert er: „Lasst uns mutig sein, dann jedenfalls ist mir um die Zukunft nicht bange.“

„Das hat hier etwas von einem Klassentre­ffen.“

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FOTOS: DPA/KOEHLER/PHOTOTHEK Ein ergreifend­er Moment: Gauck gratuliert seinem Nachfolger Steinmeier zur Wahl.
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Alle Köpfe müssen auf Elke Ferners Selfie: Stefan Pauluhn, Anke Rehlinger (beide Saar-SPD), Peter Maffay und Doris Schröder-Köpf.
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Der „Jogi“und die Kanzlerin: Herzliche Begrüßung im Bundestag.
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So schrill wie immer: Olivia Jones im Gespräch mit Vizekanzle­r Gabriel.
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Sie folgt Daniela Schadt (r.) in der Rolle der First Lady: Elke Büdenbende­r.

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