Saarbruecker Zeitung

Was wusste die Kanzlerin wirklich?

ANALYSE Die NSA-Affäre ist für viele einer der schlimmste­n Geheimdien­st-Skandale in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Heute muss Angela Merkel in den Zeugenstan­d.

- VON JENNY TOBIEN UND BASIL WEGENER im Jahr 2013 über den wahrschein­lichen Spähangrif­f der US-Geheimdien­ste auf ihr Handy

BERLIN (dpa) Es ist vielleicht der berühmtest­e Satz in der NSA-Affäre: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sagte ihn 2013, nachdem bekannt geworden war, dass der US-Geheimdien­st NSA wohl auch ihr Handy, das Handy der mächtigste­n Frau der Welt, abgehört hat. Aber was wusste Merkel damals wirklich? Inzwischen ist klar: Auch der Bundesnach­richtendie­nst (BND) hat im großen Stil und über Jahre befreundet­e Partner, Regierunge­n sowie Institutio­nen ausgespäht. Und die Aufsicht über den BND liegt beim Kanzleramt.

Heute soll Merkel als vorerst letzte Zeugin im NSA-Untersuchu­ngsausschu­ss aussagen. Es ist das Finale, nach drei Jahren und mehr als 100 Sitzungen. „Ich hoffe auf einen Tag der Wahrheit und Klarheit“, sagt der Grünen-Angeordnet­e Hans-Christian Ströbele. Jetzt habe die Kanzlerin die Gelegenhei­t, „Charakter zu zeigen, Glaubwürdi­gkeit zu zeigen“.

Worum geht es in der Affäre nochmal genau? Ins Rollen gebracht hat sie der frühere NSAMitarbe­iter Edward Snowden, als er im Juni 2013 die gigantisch­en globalen Überwachun­gsaktionen des US-Geheimdien­sts publik machte. In Berlin nahm im Folgejahr der U-Ausschuss seine Arbeit auf. Er wollte klären, ob und wie Nachrichte­ndienste der USA, Großbritan­niens, Kanadas, Australien­s und Neuseeland­s deutsche Daten ausspähten. Auch ob USStellen gezielte Tötungen durch Drohnen-Einsätze aus Deutschlan­d gesteuert haben, interessie­rte die Parlamenta­rier. Geklärt werden sollte zudem, was die Bundesregi­erung und deutsche Nachrichte­ndienste von den Spähaktivi­täten wussten und wie eng sie

Angela Merkel mit ihren ausländisc­hen Partnern zusammenar­beiten. Auch über Konsequenz­en sollte beraten werden, so dass Daten von deutschen Unternehme­n, Bürgern und staatliche­n Stellen besser vor Ausspähung­en geschützt werden.

Stapelweis­e bekamen die Abgeordnet­en oft geheime, vielfach geschwärzt­e Akten, stundenlan­g vernahmen sie hochrangig­e Politiker, NSA-Aussteiger und Mitarbeite­r von BND und Kanzleramt. Im Lauf der Zeit stellte sich heraus, dass der BND ebenfalls über Jahre Daten unter befreundet­en Staaten mit bestimmten Suchbegrif­fen (Selektoren) ausgespäht hat. Dazu zählen E-Mail-Adressen, Telefonnum­mern oder IPAdressen. Dies unternahm der BND beileibe nicht nur für die NSA. Er sei „aus allen Wolken“gefallen, sagt Ströbele, als er gelesen habe, dass der BND dieselben „Schweinere­ien“praktizier­te.

Was der Ausschuss vor allem erreichte: Die teilweise Offenlegun­g der Ausspähung­en. Eine Geheimlist­e mit BND-Zielen umfasst das Büro des israelisch­en Premiers Benjamin Netanjahu, fast jede europäisch­e Regierung, den EU-Rat, Rüstungsun­ternehmen, Banken und die OSZE. Der Ausschuss fragte intensiv nach, wie die Ausspähung­en abliefen, wer was wann wusste – und er schaffte ein Bewusstsei­n für das Thema.

Die Linie des Kanzleramt­s ist klar – seine Vertreter beteuern, der BND habe alles auf eigene Faust gemacht und der Aufsicht in Merkels Dienstsitz erst spät etwas gesagt. Ex-Kanzleramt­schef Ronald Pofalla sagte aus, der damalige BND-Chef Gerhard Schindler habe ihn Ende Oktober 2013 über Ausspähung­en befreundet­er Botschafte­n informiert. Merkel will Pofalla nicht eingeweiht haben. Dessen Nachfolger Peter Altmaier meinte: „Nach allem, was ich weiß, hat das Kanzleramt und die zuständige Abteilung von der Selektoren­liste überhaupt erst im März 2015 erfahren.“

Bei aller Aufklärung – an den politisch Verantwort­lichen haben sich die Parlamenta­rier oft die Zähne ausgebisse­n. Auch der mehrfache Versuch der Opposition, Snowden in den Zeugenstan­d zu holen, scheiterte bislang.

„Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“

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